Engel Der Nacht
auf die Wange. »Konzentrier dich. Von wem spreche ich?«
»Ich weiß nicht.« Ich konnte nicht mehr von mir geben als ein Flüstern.
»Weißt du, warum er nicht verletzt werden kann? Weil er keinen menschlichen Körper besitzt. Er kann nichts spüren. Wenn ich ihn einschließen und foltern würde, würde das überhaupt nichts bringen. Er kann nicht fühlen. Keine Spur von Schmerz. Inzwischen müsste es dir aber eingefallen sein, oder? Du hast eine Menge Zeit mit dieser Person verbracht. Warum so still, Nora? Kommst du immer noch nicht darauf?«
Ein paar Schweißperlen liefen meinen Rücken hinunter.
»Jedes Jahr, wenn der hebräische Monat Cheschwan beginnt, nimmt er meinen Körper in Besitz. Zwei ganze Wochen lang. So lange muss ich die Kontrolle abgeben. Keine Freiheit, keine Wahl. Ich darf in diesen zwei Wochen aber auch nicht fliehen, meinen Körper einfach verleihen und dann wiederkommen, wenn alles vorbei ist. Nein, ich bleibe darin, ein Gefangener in meinem eigenen Körper , und muss jeden Augenblick miterleben«, sagte er zähneknirschend. Dann schrie er: »Weißt du, wie sich das anfühlt? Weißt du das?«
Ich hielt den Mund, weil ich wusste, dass es gefährlich gewesen wäre zu sprechen. Jules lachte, ein Zischen von Luft zwischen seinen Zähnen. Es hörte sich unheimlicher an als alles, was ich jemals zuvor gehört hatte.
Er sagte: »Ich habe einen Eid geschworen, ihm zu erlauben, meinen Körper an Cheschwan in Besitz zu nehmen. Da war ich sechzehn Jahre alt.« Er zuckte die Schultern, aber
die Bewegung war steif. »Er hat mich durch Folter zu dem Eid gezwungen. Hinterher hat er mir gesagt, ich sei nicht menschlich. Kannst du das glauben? Nicht menschlich . Er hat mir gesagt, meine Mutter, ein Mensch, hätte mit einem gefallenen Engel geschlafen.«
Er grinste hasserfüllt, Schweiß stand ihm auf der Stirn. »Habe ich schon erwähnt, dass ich ein paar Eigenschaften von meinem Vater geerbt habe? Genau wie er bin ich ein Täuscher. Ich lasse dich Lügen sehen. Ich lasse dich Stimmen hören.«
Genau wie jetzt. Kannst du mich hören, Nora? Hast du keine Angst?
Er tippte mir an die Stirn. »Was passiert da drinnen, Nora? Unheimlich still da drin, was?«
Jules war Chauncey. Er war ein Nephilim. Ich erinnerte mich an mein Muttermal und an das, was Dabria mir gesagt hatte. Jules und ich hatten dasselbe Blut. In meinen Adern rann das Blut eines Ungeheuers. Ich schloss meine Augen, und eine Träne rann meine Wange herab.
»Erinnerst du dich an die Nacht, in der wir uns zum ersten Mal begegnet sind? Ich bin vor das Auto gesprungen, das du fuhrst. Es war dunkel und neblig. Du warst bereits entnervt, was es umso einfacher machte, dich zu täuschen. Es hat mir gefallen, dir Angst einzujagen. Diese erste Nacht hat mich auf den Geschmack gebracht.«
»Ich hätte doch gemerkt, wenn du das gewesen wärest«, flüsterte ich. »Es gibt nicht so viele Leute, die deine Größe haben.«
»Du hast mir nicht zugehört. Ich kann dich sehen lassen, was immer ich will. Meinst du wirklich, ich übersehe so beweiskräftige Details wie meine Größe? Du hast gesehen, was ich wollte, dass du siehst. Einen unauffälligen Mann mit einer schwarzen Skimaske.«
Ich saß da und fühlte einen kleinen Riss in meinem Schrecken. Ich war nicht verrückt. Jules steckte hinter alledem. Er war der Verrückte. Er konnte mit meinem Verstand spielen, weil sein Vater ein gefallener Engel war und er diese Fähigkeit geerbt hatte.
»Du hast auch nicht wirklich mein Zimmer durchwühlt«, sagte ich. »Du hast mich das nur denken lassen. Deshalb war alles in Ordnung, als die Polizei kam.«
Er applaudierte langsam und gekünstelt. »Und willst du das Beste wissen? Du hättest mich aufhalten können. Ich hätte nicht ohne deine Erlaubnis in deinen Verstand eindringen können. Als ich in dich hineingegriffen habe, hast du dich nicht gewehrt. Du warst schwach. Eine leichte Beute.«
Es klang alles plausibel, doch anstatt Erleichterung zu verspüren, wurde mir klar, wie verwundbar ich war. Ich war weit offen. Da war nichts, was Jules daran hinderte, mich in seine Spiele zu verwickeln, wenn ich nicht lernte, ihn zu blockieren.
»Versetz dich mal an meine Stelle«, sagte Jules. »Dein Körper wird jedes Jahr missbraucht. Stell dir einen Hass vor, der so stark ist, dass nur Rache ihn heilen kann. Stell dir vor, du würdest eine große Menge Energie und Geld darauf verwenden, das Ziel deiner Rache im Auge zu behalten und geduldig auf den Moment zu
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