Engel Der Nacht
sein könnte und mich umbringen wollte, war ein wenig weit hergeholt. Aber mit all den unheimlichen Dingen, die in letzter Zeit geschahen, war es kein Wunder, wenn ich übertrieben reagierte und das Schlimmste annahm.
»Ich geh zuerst raus«, sagte Vee. »Wenn mir jemand folgt, dann folgst du ihm. Am besten ich gehe den Weg zum Friedhof rauf, dann nehmen wir sie in die Zange und stellen ein paar Fragen.«
Eine Minute später verließ Vee den Laden in meiner Jeansjacke. Sie spannte meinen roten Regenschirm auf und hielt ihn dicht über ihren Kopf. Abgesehen davon, dass sie ein paar Zentimeter zu groß und ein paar Kilo zu üppig war, konnte sie glatt für mich durchgehen. Von dort aus, wo ich zwischen den Nachthemden hockte, sah ich die vermummte Gestalt aus dem Laden treten und Vees Verfolgung aufnehmen. Ich kroch dichter ans Fenster. Obwohl das lose Sweatshirt und die Jeans das Geschlecht verbergen sollten, war der Gang doch weiblich. Eindeutig weiblich.
Vee und das weibliche Wesen verschwanden um die Ecke, und ich lief zur Tür. Draußen hatte sich der Regen in eine Sturmflut verwandelt. Während ich Vees Schirm aufspannte, ging ich schneller und hielt mich unter den Markisen, um dem herunterströmenden Regen zu entgehen. Ich spürte, wie die Aufschläge meiner Jeans nass wurden, und wünschte kurz, ich hätte Stiefel angezogen.
Hinter mir reichte der Pier in den zementgrauen Ozean hinein. Vor mir endete die Reihe von Geschäftshäusern am Fuß eines steilen, grünen Hügels. Oben auf dem Hügel konnte ich undeutlich den hohen schmiedeeisernen Zaun des Gemeindefriedhofs ausmachen.
Ich schloss den Neon auf, drehte die Lüftung voll auf und stellte die Scheibenwischer auf die schnellste Stufe. Dann
fuhr ich vom Parkplatz, bog nach links ab und beschleunigte den Hügel hinauf. Die Friedhofsbäume ragten vor mir auf, ihre Äste sahen durch das verrückte Hin und Her der Wischer täuschend lebendig aus. Die weißen Marmorgrabsteine schienen aus der Dunkelheit hervorzustechen. Die grauen Grabsteine dagegen verloren sich im Dunst.
Aus dem Nichts flog ein rotes Ding in meine Windschutzscheibe. Es krachte direkt in meinem Blickfeld aufs Glas, flog dann hoch und über das Auto hinweg. Ich trat auf die Bremse, und der Neon hielt mit quietschenden Reifen am Straßenrand.
Ich öffnete die Tür, stieg aus und rannte hinter das Auto, um nach dem zu suchen, was ich überfahren hatte.
Es folgte ein Moment der Verwirrung, in dem mein Verstand verarbeitete, was ich sah. Mein roter Regenschirm lag im Gesträuch. Er war kaputt; eine Seite war platt gedrückt, wie es nicht anders zu erwarten war, wenn er mit Gewalt gegen ein anderes, härteres Objekt geworfen worden war.
Durch den strömenden Regen hörte ich ein unterdrücktes Schluchzen.
»Vee?«, sagte ich. Ich lief über die Straße und ließ meinen Blick über die Landschaft wandern, wobei ich meine Augen vor dem Regen schützte. Da vorne lag ein zusammengerollter Körper. Ich fing an zu rennen.
»Vee!« Ich ließ mich neben ihr auf die Knie fallen. Sie lag auf der Seite, mit angezogenen Beinen, und stöhnte.
»Was ist passiert? Bist du in Ordnung? Kannst du dich bewegen?« Ich warf meinen Kopf zurück, bekam Regentropfen in die Augen. Denk nach! , sagte ich mir. Mein Handy. Im Auto. Ich musste den Notarzt anrufen.
»Ich geh Hilfe holen«, versprach ich Vee.
Sie stöhnte und drückte meine Hand.
Für einen Moment beugte ich mich über sie, hielt sie fest.
Tränen brannten in meinen Augen. »Was ist passiert? War das die Person, die dir gefolgt ist? Haben sie dir was getan? Was haben sie dir getan?«
Vee murmelte etwas Unverständliches, das ›Handtasche‹ bedeuten konnte. Und tatsächlich, ihre Handtasche war weg.
»Alles wird gut.« Ich gab mir alle Mühe, meine Stimme zuversichtlich klingen zu lassen, aber in Wahrheit hatte ich ein ungutes Gefühl und war vollauf damit beschäftigt, es zu unterdrücken. Mit ziemlicher Sicherheit war dieselbe Person, die mich im Delphic verfolgt hatte und die uns heute beim Einkaufen gefolgt war, hierfür verantwortlich, aber ich gab mir selbst die Schuld an dem Vorfall, weil ich Vee in Gefahr gebracht hatte. Ich rannte zurück zum Neon und tippte 911 in mein Handy.
Dann versuchte ich, die Hysterie in meiner Stimme zu unterdrücken, und sagte: »Ich brauche einen Krankenwagen. Meine Freundin ist überfallen und ausgeraubt worden.«
ELF
D er Montag verging wie im Traum. Ich ging von Kurs zu Kurs und wartete nur darauf, dass es
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