Engel Der Nacht
Baum aufgehängt hat? Ist schon vorgekommen.«
»Du meinst nicht, dass es ein reichlich großer Zufall ist, dass Spuren eines Einbruchs gefunden wurden, als man auf den Abschiedsbrief stieß?«
»Sie wohnte in Portland. Einbrüche kommen vor.«
»Ich glaube, jemand hat den Brief dorthin gelegt. Jemand, der den Verdacht von Elliot ablenken wollte.«
»Wer würde so etwas tun wollen?«, fragte Vee.
Ich warf ihr meinen besten Wie blöd kann man eigentlich sein- Blick zu.
Vee stützte sich auf ihren gesunden Ellbogen. »Du willst also sagen, dass Elliot Kjirsten einen Baum raufgezogen, eine Schlinge um ihren Hals gelegt und sie vom Ast gestoßen hat, dann in ihr Apartment eingebrochen ist und dort Beweismaterial deponiert hat, das auf einen Selbstmord deutete?«
»Warum nicht?«
Vee gab mir den Wie blöd kann man sein- Blick zurück.
»Weil die Polizei alles untersucht hat. Und wenn die sagen, es war Selbstmord, dann sage ich das auch.«
»Und wie erklärst du das«, sagte ich. »Ein paar Wochen nachdem Elliot aus der Untersuchungshaft heraus war, hat er die Schule gewechselt. Warum sollte jemand von der Kinghorn Prep abgehen, um auf die CHS zu kommen?«
»Da hast du allerdings recht.«
»Ich glaube, er versucht, seiner Vergangenheit zu entkommen. Ich glaube, auf demselben Schulgelände Unterricht zu haben, wo er Kjirsten umgebracht hatte, wurde ihm zu ungemütlich. Er hat ein schlechtes Gewissen.« Nachdenklich tippte ich mit dem Bleistift an meine Lippe. »Vielleicht sollte ich zur Kinghorn rausfahren und Nachforschungen anstellen. Sie ist gerade erst zwei Monate tot. Alle sind noch damit beschäftigt, das Ganze zu verarbeiten.«
»Ich weiß nicht, Nora. Ich hab kein gutes Gefühl dabei, in der Kinghorn eine Spionageoperation zu starten. Fragst du da etwa speziell nach Elliot? Was, wenn er es herausfindet? Was wird er dann denken?«
Ich sah auf sie hinunter. »Er braucht sich nur Sorgen zu machen, wenn er schuldig ist.«
»Und dann bringt er dich um, um dich mundtot zu machen.« Vee grinste wie die Cheshirekatze, aber ich erwiderte das Grinsen nicht. »Ich will genauso sehr herausfinden wie du, wer mich überfallen hat«, fuhr sie dann ernsthafter fort. »Aber ich bin mir todsicher, es war nicht Elliot. Ich habe das Ganze in meiner Erinnerung hundertmal durchgespielt. Es passt nicht. Überhaupt nicht. Glaub mir.«
»Okay, vielleicht hat Elliot dich nicht überfallen«, sagte ich in dem Versuch, Vee zu beschwichtigen, ohne Elliot für unschuldig zu erklären. »Es spricht trotzdem eine Menge gegen ihn. Erstens, er war in einen Mordfall verwickelt. Und
zweitens, er ist fast zu nett. Es ist unheimlich. Und drittens, er ist mit Jules befreundet.«
Vee zog die Augenbrauen hoch. »Jules? Was ist verkehrt an Jules?«
»Meinst du nicht, dass es komisch ist, dass sich Jules jedes Mal, wenn wir mit den beiden zusammen sind, aus dem Staub macht?«
»Was soll das heißen?«
»An dem Abend, an dem wir ins Delphic gegangen sind, ist Jules fast sofort verschwunden, um aufs Klo zu gehen. Ist er jemals wiedergekommen? Hat Elliot ihn gefunden, nachdem ich Zuckerwatte kaufen gegangen bin?«
»Nein, aber ich habe gedacht, er hat interne sanitäre Probleme.«
»Dann, gestern Abend, war er mysteriöserweise krank.« Ich rieb den Radiergummi meines Bleistifts an meiner Nase und dachte nach. »Er scheint ganz schön oft krank zu sein.«
»Ich glaube, du deutest da zu viel rein. Vielleicht … vielleicht hat er ja einen Reizdarm.«
Vees Interpretation der Lage kam mir unwahrscheinlich vor, denn es gab da noch eine Sache, die schon die ganze Zeit am Rande meines Bewusstseins herumdümpelte. Die Kinghorn Prep war über eine Stunde Autofahrt entfernt. Wenn die Schule so streng war, wie Elliot behauptete, wie kam es dann, dass Jules ständig Zeit hatte, zur Coldwater zu fahren? Ich sah ihn fast jeden Morgen mit Elliot bei Enzo’s. Und außerdem fuhr er Elliot nach der Schule nach Hause. Es war fast, als hätte Elliot Jules in der Hand.
Aber das war noch nicht alles. Ich rieb den Radiergummi noch fester an meiner Nase. Was fehlte noch?
»Warum sollte Elliot Kjirsten ermorden?«, fragte ich mich laut. »Vielleicht hat sie gesehen, wie er etwas Illegales
getan hat, und er hat sie umgebracht, um sie zum Schweigen zu bringen.«
Vee seufzte. »Du bist gerade auf dem besten Wege, ins Land des Absolut-Kein-Sinn-Darin abzudriften.«
»Da ist noch etwas. Etwas, das wir nicht sehen.«
Vee sah mich an, als würde mein Verstand
Weitere Kostenlose Bücher