Engel Der Nacht
die Bibliothek.«
»Ich hatte einen Termin bei Miss Greene, der neuen Schulpsychologin«, sagte ich sehr sachlich, aber tief in mir hatte ich ein hohles, zittriges Gefühl. Ich konnte nicht aufhören, daran zu denken, dass Elliot in mein Haus eingebrochen hatte. Was hielt ihn davon ab, es noch einmal zu tun? Oder etwas Schlimmeres?
Nachdem ich an meinem Zahlenschloss herumgedreht und den Spind geöffnet hatte, tauschte ich ein paar meiner Bücher aus. »Weißt du, wie viel eine gute Alarmanlage kostet?«
»Nimm’s mir nicht übel, Süße, aber dein Auto klaut keiner.«
Ich nagelte Vee mit einem finsteren Blick fest. »Für mein Haus. Ich will sichergehen, dass Elliot nicht noch einmal reinkommt.«
Vee schaute sich um und räusperte sich.
»Was?«, sagte ich.
Vee warf die Hände in die Luft. »Nichts. Gar nichts. Wenn du immer noch darauf bestehst, Elliot zu beschuldigen … das ist deine Deutung. Eine verrückte Deutung, aber bitte, es ist deine.«
Ich stieß meinen Spind zu, und das Gerassel echote durch den Gang, während ich versuchte, eine anklagende Bemerkung zu unterdrücken. Eigentlich müsste sie doch diejenige sein, die mir von allen Menschen am ehesten glaubte. Stattdessen sagte ich: »Ich bin auf dem Weg in die Bibliothek und hab’s eilig.« Wir verließen das Gebäude und gingen über das Gelände zum Parkplatz, als ich erkannte, dass ich in der Patsche saß. Ich hatte mich nach dem Fiat umgesehen, doch dann war mir eingefallen, dass meine Mutter mich heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit hergebracht hatte. Und mit ihrem gebrochenen Arm konnte Vee auch nicht fahren.
»Mist«, sagte Vee, die meine Gedanken gelesen hatte. »Wir haben kein Auto.«
Ich schirmte meine Augen vor den Sonnenstrahlen ab und sah die Straße hinunter. »Ich nehme an, das heißt, wir müssen laufen.«
»Nicht wir. Du. Ich würde ja mitkommen, aber einmal pro Woche ist mein Bibliothekslimit.«
»Du bist diese Woche noch gar nicht in der Bibliothek gewesen«, erinnerte ich sie.
»Ja, aber es kann sein, dass ich morgen hinmuss.«
»Morgen ist Donnerstag. Hast du in deinem ganzen Leben jemals an einem Donnerstag gelernt?«
Vee berührte ihre Lippen mit einem Fingernagel und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Habe ich jemals an einem Mittwoch gelernt?«
»Nicht, dass ich mich erinnern könnte.«
»Da hast du’s. Ich kann nicht gehen. Es würde bedeuten, mit einer Tradition zu brechen.«
Eine halbe Stunde später lief ich die Treppen zum Haupteingang der Bibliothek hoch. Drinnen ließ ich Hausaufgaben Hausaufgaben sein und ging direkt ins Medienlabor, wo ich das Internet durchkämmte nach weiteren Informationen zur
›Kinghorn-Hinrichtung‹. Doch da war nicht viel. Am Anfang gab es viel Gerede, aber nachdem der Abschiedsbrief gefunden und Elliot wieder auf freiem Fuß war, hatte es wichtigere Nachrichten gegeben.
Es wurde Zeit für einen Ausflug nach Portland. Ich würde nichts Neues mehr erfahren, solange ich nur archivierte Nachrichten durchlas, aber vielleicht hatte ich vor Ort mehr Glück. Also loggte ich mich aus und rief meine Mutter an.
»Muss ich heute Abend um neun zu Hause sein?«
»Ja, warum?«
»Ich wollte mit dem Bus nach Portland fahren.«
Sie brach in eines ihrer Du denkst wohl, ich bin übergeschnappt- Gelächter aus.
»Ich muss ein paar Schüler an der Kinghorn Prep interviewen«, sagte ich. »Für ein Projekt, an dem ich arbeite.« Das war nicht mal gelogen. Nicht wirklich. Es wäre natürlich viel leichter zu rechtfertigen gewesen, wenn ich nicht auch noch ein schlechtes Gewissen gehabt hätte, weil ich den Einbruch und den darauffolgenden Besuch der Polizei vor ihr verheimlicht hatte. Ich hatte natürlich vorgehabt, es ihr zu erzählen, aber jedes Mal, wenn ich meinen Mund aufmachte, um die Worte zu formen, waren sie plötzlich weg. Wir kämpften ums Überleben. Wir brauchten die Einkünfte meiner Mutter. Wenn ich ihr von Elliot erzählte, dann würde sie sofort kündigen.
»Du kannst nicht allein in die Stadt fahren. Es ist mitten in der Woche, und bald wird es dunkel. Außerdem sind die Schüler schon längst nach Hause gegangen, bis du ankommst.«
Ich seufzte. »Okay, dann bin ich bald zu Hause.«
»Ich weiß, ich hatte dir versprochen, dich abzuholen, aber ich sitze hier im Büro fest.« Ich hörte Papiergeraschel im Hintergrund und stellte mir vor, wie sie das Telefon unter
dem Kinn festgeklemmt hatte, das Kabel mehrfach um ihren Körper gewickelt. »Ist es zu viel verlangt, wenn ich
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