Engel der Rache - Bruder Hilperts fünfter Fall
groß wie noch nie in ihrem erst 14 Jahre währenden Erdendasein, hatte sie weder
ein noch aus gewusst, Gott und sämtliche Heiligen um Beistand angefleht, die Welt
der Erwachsenen, in der für sie kein Platz mehr war, aus tiefster Seele verflucht.
Genützt hatte es freilich nichts, weshalb sie ihre Schritte dorthin gelenkt hatte,
wo sie aus den Händen von Vater Crispianus, ihrem Beichtvater, dereinst das Sakrament
der Taufe empfangen hatte. Somit war die Kirche zu Sankt Peter und Paul zu ihrer
letzten Zuflucht geworden, und sie, Agnes Egerter, um eine Enttäuschung reicher.
Nicht etwa, dass Vater Crispianus die kleine
Bademagd abgewiesen hätte. Das nicht. Ihretwegen hatte er sogar sein Bibelstudium,
dem er sich vor dem Abendläuten widmete, unterbrochen, alles stehen und liegen lassen
und sich mit ihr in die Kirche begeben. Dort, vor dem Altar, hatte er ihr zunächst
eine geharnischte Predigt gehalten, sie ermahnt, bei der Wahrheit zu bleiben und
ihr das Versprechen abgenommen, von dem, worüber sie mit ihm gesprochen habe, nichts
an anderer Menschen Ohr dringen zu lassen.
Gefruchtet hatte ihre Beichte indes nicht viel,
außer vielleicht, dass ihr Vater Crispianus zum Abschied eine Scheibe Schwarzbrot
in die Hand gedrückt und sie mit den Worten entlassen hatte, Gott der Herr sehe
alles und werde ihr weiterhin Beistand gewähren. Ihr Peiniger, nun ja, der werde
dereinst zur Rechenschaft gezogen, vorausgesetzt, sie habe ihm die Wahrheit gesagt.
Dass es eine Zeugin gab, schien ihn überhaupt nicht zu interessieren.
Die Wahrheit, aha. Das war deutlich gewesen,
mehr als deutlich. Kein Wunder, dass der Abschied zwischen ihr und dem Dorfpfarrer
ein frostiger gewesen war.
Und der letzte.
Agnes Egerter, zu Hause im Spitalviertel ›Nessel‹
gerufen, hatte genug vom Leben. Zutiefst gedemütigt, hätte sie ihm am liebsten ein
Ende gemacht, wäre da nicht die Frage nach dem Wie gewesen. Das war es, worüber
sie sich am meisten den Kopf zerbrach. Auch dann noch, als sie beim Vesperläuten
die zweigeschossige Tauberbrücke überquerte, auf halbem Weg stehen blieb und geraume
Zeit in die talwärts strömenden Fluten starrte. An die in karmesinrotes Abendlicht
getauchten Flussauen und die wie Bergkristall funkelnden Schneemassen, unter denen
die Dächer der Stadt ächzten, verschwendete sie jedoch keinen Blick, geschweige
denn an den Rauchfaden, welcher aus der Herberge am Ufer in den wolkenlosen Abendhimmel
stieg. Dort drüben wohnten ja schließlich Menschen, genau wie droben auf dem Bergsporn,
wo sich die Tore, Türme und Bastionen ihrer Heimatstadt auf steil emporragendem
Fels in die Höhe reckten. Und mit denen, ihre eigene Familie mit eingeschlossen,
wollte sie von heute an nichts mehr zu tun haben. Es kümmerte sie nicht, ob sie
den Eltern Schmerzen bereiten, Schande machen oder Leid zufügen würde. Oder ob man
sie, wie dies mit Selbstmördern zu geschehen pflegte, auf dem Schindanger verscharren
würde. Alles, wonach ihr der Sinn stand, war, möglichst rasch aus dem Leben zu scheiden.
Auf dass ihr Martyrium, welches im Badehaus begonnen hatte, endlich ein Ende habe.
Ein Ende – aber wie? Paradoxerweise war es der
Gedanke an ihre Eltern gewesen, welcher sie dem ersehnten Ziel ein Stück näher gebracht
und dafür gesorgt hatte, dass sie den Weg einschlug, welcher hinauf zum Kobolzeller
Tor führte. Um diese Zeit, kurz vor Toreschluss, war kaum noch jemand unterwegs,
außer einer Gruppe von Jakobspilgern, die laut schwatzend und schwadronierend der
Herberge im Tal zustrebten. Das unscheinbare Mädchen mit den zerzausten blonden
Haaren und dem leeren Blick war ihnen nicht einmal ein Kopfnicken wert, und selbst
wenn, hätte Agnes die mit Hut, Jakobsmuschel und Pilgerstab bewehrten Wandersleute
nicht bemerkt.
Aufgefallen, und das nicht ohne Grund, war sie
indessen Krücken-Jörg, Veteran aus dem Krieg gegen den Burggrafen, in dem er sein
rechtes Bein eingebüßt hatte. Jörg, gegenüber Späßen und einem kleinen Plausch niemals
abgeneigt, war gerade dabei, die Torflügel zu schließen, als sich Agnes einfach
durch den schmalen Spalt zwängte und ohne ein Wort des Grußes an ihm vorüberhastete.
So wie ihm, dem allseits beliebten Torwächter, erging es auch den Nachbarn, auf
die Agnes auf ihrem Weg in die Spitalgasse stieß. Sie schaute weder nach rechts
noch links, und wer ihren Blick auffing, stutzte und schaute ihr mit banger Miene
hinterher.
Von alldem bekam Agnes Egerter, genannt ›Nessel‹,
nichts mehr mit.
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