Engel der Rache - Bruder Hilperts fünfter Fall
frei – Ihr habt mich belauscht.«
Der Notarius lächelte. »Nicht ich, sondern meine
Schwester.«
»Vor Tuchscherers Haus?«
»Gut beobachtet, Bruder. Völlig unbeabsichtigt,
wie ich der Korrektheit halber betonen muss.«
»Absichtlich oder nicht – das ist momentan nicht
der Punkt.« Die Hände auf dem Rücken verschränkt, begann Bruder Hilpert vor der
Pforte des Franziskanerklosters auf und ab zu gehen. Der Wind hatte deutlich nachgelassen,
und ihm war, als spüre er einen Hauch von Frühling in der Luft. »Sondern die Frage,
was Euch bewogen hat, mit mir Kontakt aufzunehmen.«
»Ich bin mit ihr aufgewachsen.«
»Mit Egberta?«
Der Notarius nickte und wich dem Blick des Bibliothekarius
aus.
»Und weswegen noch?«
»Glaubt mir, Bruder –«, beteuerte Nyeß und fingerte
am Kragen seines Talars herum, »wärt Ihr an meiner Stelle, würdet Ihr genauso handeln.«
Und fügte hinzu: »Jeder bekommt, was er verdient. Vor allem dieser Hundsfott von
Tuchhändler.«
»Woher dieser Groll, wenn ich fragen darf?«
»Weil Bermetter seine Schwester auf dem Gewissen
hat, darum.«
»Das müsst Ihr mir näher erklären, Nyeß.«
»Nichts lieber als das.« Der Notarius bleckte
die Zähne. »Vor ziemlich genau einer Woche habe ich Egberta zum letzten Mal gesehen.
Gesund und munter. Na ja, vielleicht nicht so ganz, gemessen am Zustand, in dem
sie sich befand.«
»Und wo?«
»In meiner Kanzlei. Drüben am Milchmarkt. Sie
wollte mich unbedingt sprechen, betonte, es sei dringend. Eine Angelegenheit, die
keinen Aufschub dulde. Für den Fall, dass sie die Geburt nicht … für den Fall, dass
ihr ›etwas zustoßen‹ sollte. Das waren ihre Worte.«
»Merkwürdig.«
»Die Absicht, ihren Mann zum Universalerben
einzusetzen, meint Ihr? Schon möglich. Tja, Liebe macht eben blind.« Nyeß atmete
tief durch und ergänzte: »Einerlei, hätte der alte Wernitzer seiner Tochter nicht
das gesamte Vermögen vermacht, würde sie möglicherweise noch leben.«
»Will heißen, um Schlimmeres – oder die Katastrophe
schlechthin – zu verhindern, tun sich Mutter und Sohn zusammen und beschließen,
das Übel vom Hause Wernitzer abzuwenden.«
»Genau, Bruder.«
»Fragt sich nur, auf welche Weise.«
»Das überlasse ich Eurer Fantasie, Bibliothekarius.«
»Zu gütig.« Bruder Hilpert dachte angestrengt
nach. »Gehe ich recht in der Annahme«, sinnierte er, die Arme unter seiner Kukulle
und den Blick auf den sichtlich zufriedenen Notarius gelenkt, »gehe ich recht in
der Annahme, dass Egbertas Vater in Betracht gezogen hat, dass seiner Tochter etwas
zustoßen könnte?«
»Hat er, Bruder. Und für den Fall der Fälle
vorgesorgt.« Der Notarius grinste breit. »Testamentarisch. Ratet mal, wer den großen
Reibach gemacht hätte. Oder, akkurat ausgedrückt, wer ihn machen wird. Cui bono [76] , Bruder, das ist
hier die Frage.«
»Mein Kompliment, Herr Notar. Stichhaltiger
geht es wirklich nicht.« Bruder Hilpert blieb stehen und deutete auf sein rechtes
Ohr. »Wie geruhtet Ihr doch zu sagen: In dieser Stadt haben die Wände Ohren. Und
Augen. Von daher auch meine Bitte um größtmögliche Diskretion.«
Nyeß nickte, trat auf seinen Gesprächspartner
zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. »Na, Bruder, alle Fragen beantwortet?«
»Nicht alle, Notarius, nicht alle.«
Nyeß stutzte. »So zum Beispiel?«
»Meine Frage von vorhin, Notarius«, erwiderte
Bruder Hilpert seinem Nebenmann und präzisierte: »Und zwar diejenige nach Eurem
Motiv. Höchste Zeit, mir eine Erklärung zu liefern, oder?«
»Wüsste nicht, was es da zu erklären gibt!«,
schnauzte der Notarius und stiefelte aufgebracht hin und her. »Bermetter hat mich
in den Ruin getrieben. Mit voller Absicht. Wie, wollt Ihr wissen? Ganz einfach.
Ich steckte in Schwierigkeiten. Pekuniärer Art. Zu wenige Klienten, was will man
machen. Kurzum, mir blieb nichts anderes übrig, als mein Haus zum Verkauf anzubieten.«
»Unter anderem an Euren Ratskollegen, den einzigen
Interessenten.«
»Ihr habt es erfasst, Bruder.« Nyeß schäumte
regelrecht vor Wut. »Der wiederum nicht gezögert hat, aus meiner Notlage Kapital
zu schlagen.«
»Indem er den Versuch machte, den Preis zu drücken?«
»Meine Hochachtung, Bruder. Ich finde, Ihr macht
Eurem Orden alle Ehre.«
Der Bibliothekarius deutete eine Verbeugung
an. »Und dann?«
»Ich hab’ ihn an die frische Luft gesetzt, was
denn sonst!«
»Wieviel hat er Euch geboten?«
»Die Hälfte.«
»Ergo: Ihr wart gezwungen, einen Kredit
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