Engel der Rache - Bruder Hilperts fünfter Fall
Gehen. »Mich wundert, wie du darauf
gekommen bist.«
»Wo sich ihr Versteck befindet, meinst du? Kriminalistischer
Spürsinn – nichts weiter«, gab Bruder Hilpert lächelnd zurück, ließ Nyeß einfach
stehen und folgte dem Freund, der schon in Richtung Marktplatz davoneilte, auf dem
Fuße. Dabei murmelte er vor sich hin: »Höchste Zeit, in der Rosengasse nach dem
Rechten zu sehen!«
24
Rosengasse, Haus der alten Irmtrud, eine Dreiviertelstunde vor Mitternacht │ [23.15 h]
Die Stunde der Abrechnung war gekommen. Endlich. Der Moment, auf den
sich ihr Sehnen und Bangen, der Wunsch nach Vergeltung und die Mühsal der vergangenen
Tage konzentrierten. Und mit ihnen die Hoffnung, dass die alte Irmtrud, um derentwillen
sie all dies auf sich genommen hatte, die Freiheit erlangen würde.
Ein Seufzer, qualvoll und erleichtert zugleich,
entrang sich ihrer Brust. Ein paar Stunden, höchstens Tage, und sie wäre am Ziel.
Die Mission, welcher sie sich mit Leib und Seele verschrieben hatte, geglückt. Vorausgesetzt,
ihr minutiös ausgearbeiteter Plan würde funktionieren. Nur darauf und nicht auf
die Skrupel, welche sie in ihrem Inneren hegte, kam es jetzt an. Gerechtigkeit oder
Tod, Vergeltung oder Triumph der Perfidie, Sühne oder Siegeszug des Bösen. So und
nicht anders lautete die Losung für die kommenden Stunden. Die Zeitspanne, in der
sich nicht nur das Schicksal der geliebten Amme, sondern auch das ihrige entscheiden
würde.
Doch noch war es nicht so weit. Noch stand ihr
der schwierigste Teil des Unterfangens bevor.
Nicht etwa, dass es ihr jetzt, im entscheidenden
Augenblick, an Mut gefehlt hätte. Daran hatte es ihr von jeher nicht gemangelt,
weder vor zwei Jahren, als sie unter Anleitung des Henkers ihren ersten Leichnam
seziert hatte, noch während der vergangenen 24 Stunden, in denen sie daran gegangen
war, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Ohne die Hilfe von Deodatus, Treuester
der Gefährten, wäre dies schwerlich möglich gewesen, und wenn sie ehrlich war, hielt
sich ihre Zuversicht in Grenzen. Seit dem Auftauchen des Minoritenbruders, an dessen
Identität sie erhebliche Zweifel hegte, war jene ein ums andere Mal ins Wanken geraten.
Das bedeutete, dass sie sich sputen musste, und sei es nur, um die Zweifel, welche
sie in immer kürzeren Abständen befielen, zu zerstreuen.
Denn die gab es reichlich, in großer Zahl. Hatte
nicht auch sie gefrevelt, die Totenruhe gestört, andere dazu angestiftet, ihr nachzueifern?
Rechtfertigte der Zweck die Mittel, war es vertretbar, ein Verbrechen mithilfe dubioser
Methoden aufzuklären? War es legitim, wider Recht und Gesetz, wider Sitte und Anstand,
wider Moral und Pietät zu handeln, wenn man entschlossen war, erlittenes Unrecht
zu sühnen? Fragen über Fragen, darunter etliche, auf die sie keine Antwort gefunden
hatte. Doch ganz gleich, wie jene ausfallen würde: Für sie, Melusine Aschenbrenner,
22 Lenze jung, von Beruf Bademagd und Heilerin aus Berufung, würde es keinen Weg
zurück mehr geben. Gewissensbisse und Skrupel, Selbstzweifel und Furcht, Schuldgefühle
und Seelenpein – all dies gehörte der Vergangenheit an. Jetzt galt es zu handeln,
die Mission, der sie sich verschrieben hatte, mit einem Höchstmaß an Akribie auszuführen.
Wahrlich, die Stunde der Abrechnung war gekommen, nichts deutete darauf hin, dass
ihr Plan zum Scheitern verurteilt sein könnte.
Oder etwa doch?
Melusine holte tief Luft
und wandte sich dem Seziertisch zu. Da lagen sie nun, fein säuberlich aneinandergereiht.
Gerade einmal zwei Tage tot, mit wächsernem Antlitz und einer Haut wie aus Pergament.
Die kleine Agnes, Egberta Tuchscherer und ein Menschenwesen, dessen Erdendasein
so kurz gewährt hatte, dass nicht einmal Zeit gewesen war, ihm einen Namen zu geben.
Da lagen sie nun, als warteten sie darauf, dass sie an die Arbeit ging.
Im Begriff, dem Drängen
in ihrem Inneren nachzugeben, ließ Melusine den Blick über ihr Sezierbesteck und
unmittelbar darauf durch das Kellergewölbe schweifen, in dem sie von Irmtrud, ihrer
Lehrmeisterin, in die Geheimnisse der Heilkunde eingeführt worden war. Bei Rezepturen,
der Herstellung von Salben und dem Brauen von Säften zur Verhinderung weiblicher
Fruchtbarkeit war es indes nicht geblieben. Bald schon hatte ihr dies nicht mehr
ausgereicht, hatten Neugierde, Wissensdurst und ein schier unstillbarer Drang nach
Erkenntnis dafür gesorgt, dass sie den Geheimnissen, welche der menschliche Körper
barg, auf den Grund gegangen war. Ganz
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