Engel der Schuld Roman
hat. Josh hat reagiert, und darauf hast du reagiert. Das ist erlaubt, du bist seine Mutter.«
»Und Paul ist sein Vater. Er könnte Josh genausowenig weh tun, wie er mir . . .« weh tun k ö nnte. Was er immer und immer wieder getan hatte; er hatte sie verletzt auf eine Art und Weise, die keine sichtbaren Narben oder Male hinterließ. »Er würde Josh nicht weh tun.«
»Da bin ich mir ganz sicher.«
Tom hob seine andere Hand und strich eine verirrte Träne unter ihrem Auge weg. Seine Fingerspitzen schlängelten sich durch die goldene Seide ihres Haars, sie drehte ihr Gesicht und legte ihre Wange nur für einen Moment in die Kühle seiner Handfläche. Sie hielt den Atem an, als könne sie damit den Augenblick festhalten.
»Du mußt ein bißchen schlafen«, flüsterte er und kämpfte gegen den Drang, sich hinunterzubeugen und ihr einen Kuß auf die Stirn oder den Mund zu geben. Ihre Hand lag noch in seiner. Er drückte sie kurz. Sie erwiderte den Druck. »Wir reden morgen.«
»Danke, daß du heute abend gekommen bist. Du hast während der Geschichte weit mehr getan, als dein Amt verlangt.«
»Nein«, sagte er. »Du verdienst wesentlich mehr, als man dir gegeben hat.« Und er wünschte sich inbrünstig, der Mann zu sein, der es ihr geben konnte. Aber er konnte es nicht sein – zumindest sagte man ihm das. Also wandte er sich ab und ging.
Und Hannah legte sich wieder neben ihr Kind, lauschte dem Rhythmus seines Atems und wünschte sich Dinge, die niemals geschehen konnten.
5
Es gab keine Möglichkeit, die Nachricht von Joshs Rückkehr geheimzuhalten. Das Krankenhauspersonal erzählte es Freunden, die es anderen Freunden erzählten, die nachts arbeiteten und im Big Steer Truck Stop draußen auf der Autobahn zu Kaffee und Kuchen einkehrten. Das Big Steer war das Restaurant des Super- 8 -Motels, von dessen fünf Zimmern vier mit Reportern belegt waren.
Sie lauerten wie ein Rudel Wölfe, als Ellen fünf Minuten vor sieben auf den Parkplatz der Stadtverwaltung fuhr. Sie versprach, ihnen später ein paar Informationen zu geben, und eilte ins Gebäude, wo sie links zum Polizeirevier abbog.
Sie trafen sich in dem Konferenzraum, den man in den ersten Stunden der Untersuchung von Joshs Entführung scherzhaft das Stabsquartier genannt hatte. An einer langen Wand klebte eine chronologische Übersicht, auf der man alles, was im Zusammenhang mit dem Fall passiert war, mit einem Blick erfassen konnte. Von einer fetten Hauptlinie aus zweigten zahlreiche Nebenadern in verschiedenen Farben ab. Die Briefe, die der Kidnapper hinterlassen hatte, um sie zu reizen, standen in Mitchs kühner schiefer Schrift auf einem weißen Nachrichtenbrett verzeichnet. Eine Karte von Minnesota und eine des FiveCounty-Gebiets hingen an einer großen Korktafel. Die Karten starrten vor Stecknadeln, die die Suchgebiete markierten.
Ellen goß sich eine Tasse Kaffee ein und setzte sich neben Cameron an den Tisch. Wilhelm saß ihr gegenüber und kämpfte mit der gleichen Übermüdung wie sie. Sheriff Steiger hatte sich einen Stuhl am Kopf des Tisches gesichert, ein kleiner Vorstoß im ständigen Kräftemessen mit Mitch. Steiger war fünfzig, hager und hart, er hatte ein schmales Gesicht und eine Haut wie altes Leder. Ein Pflaster über seiner Nase deutete an, daß er eine Schlacht im Krieg um die Vormachtstellung verloren hatte. Die beiden tauschten eisige Blicke.
So sehr sie Steiger als sexistisches Arschloch auch verabscheu te, Ellen hatte trotzdem keine Freude an der schwelenden Feindschaft zwischen den beiden Männern. Eine erfolgreiche Untersuchung, eine Untersuchung, die zu einer Verurteilung führen würde, verlangte, daß alle an einem Strang zogen, und offene Kommunikationslinien zwischen allen Mitgliedern des Teams.
Mitch schritt vor der Wandtafel auf und ab, während er die Mitglieder über Joshs Untersuchung und über das, was sich später in Joshs Zimmer abgespielt hatte, informierte.
»Also ist Paul Kirkwood immer noch verdächtig«, sagte Wilhelm.
»Verdächtig ist ein zu hartes Wort«, sagte Mitch. »Joshs Reaktion muß nicht durch Pauls Schuld ausgelöst worden sein. Es könnte alle möglichen anderen Gründe dafür geben. Vielleicht hat Paul eine gewisse körperliche Ähnlichkeit mit Wright. Vielleicht lag es an der Art, wie Paul auf ihn zuging, oder an seinem Tonfall.«
»Wir bewegen uns da auf sehr dünnem Eis«, warnte Ellen. »Mister Kirkwood ist bereits überempfindlich durch die viele Aufmerksamkeit, die man ihm geschenkt
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