Engel der Verdammten (German Edition)
Blut?
Irgendwann brach der Vampir ihre Flucht ab. Sabine blieb keuchend neben ihm stehen. Sie wusste nicht, wo sie waren. Noch immer auf dem Friedhof, so viel war klar, doch die Rufe des erzürnten Aufsehers waren verklungen.
Als sie wieder zu Atem gekommen war, sah sie sich um und begriff, wohin er sie geführt hatte. Sabine befreite ihre Hand aus der des Vampirs und schritt auf das Grab zu, an dem sie den Sommer über häufig gestanden hatte. Das einfache Holzkreuz war inzwischen verschwunden. An seiner Stelle lag ein flacher Stein, auf dem ein Engel kniete, die Flügel ausgebreitet, das ernste Gesicht und die offenen Hände dem Himmel entgegengereckt.
»Liebe ist stärker als der Tod« stand in goldenen Lettern darunter und ihr Name: »Aletta Reichmann«.
Vierundzwanzig Jahre alt war sie gewesen, als sie beschlossen hatte, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Noch immer grollte Sabine Peter ein wenig, dass er ihr dabei geholfen hatte. Sie war in seinen Armen gestorben. Friedlich. Sabine hatte ihr Gesicht gesehen. Sie konnte kaum glauben, dass Aletta tot war, so frei und glücklich hatte sie ausgesehen, als würde sie nur schlafen und in einem wundervollen Traum davonschweben.
»Sie war eine mutige und entschlossene junge Frau«, sagte der Vampir, dessen Gedanken offensichtlich ähnliche Wege gingen.
»Sie hat sich für ihre Freundinnen geopfert«, sagte Sabine, die sich noch immer nicht sicher war, was sie davon halten sollte.
»Und ihnen damit eine zweite Chance auf ein selbstbestimmtes Leben geschenkt, nachdem ihre Peiniger tot waren.«
Sabine seufzte. »Findest du das richtig?«
Peter von Borgo hob die Schultern. »Es war ihre Entscheidung, und ich akzeptiere sie. Ist ein Liebesopfer nicht etwas Wundervolles? Kann es ein größeres Geschenk geben?«
Sabine überlegte. »Vielleicht ist es ein zu großes Geschenk.«
»Das Meike und Carmen nicht verdient haben?«
Sie zuckte nur mit den Schultern. »Es ist nicht an mir, das zu beurteilen«, sagte sie und fühlte sich dabei wieder so hilflos.
»Jedenfalls sind sie sich der Größe ihrer Tat wohl bewusst«, sagte er sanft. »Sie kommen beinahe jeden Abend an ihr Grab, um ihrer zu gedenken und die Erinnerung an ihre Freundin wachzuhalten.«
Sabine sah auf die frischen Blumen auf dem Grab herab und nickte.
Schritte näherten sich, und dann konnte sie Stimmen hören. Zwei Frauen, die sich leise unterhielten. Sabine erkannte sie sofort. Es war, als hätte ihr Gespräch die beiden Mädchen heraufbeschworen. Für einen Moment erwog sie, sich zurückzuziehen. Die beiden waren ihr nicht immer wohlgesonnen gewesen, und auch ihre eigenen Gefühle waren kompliziert. Einerseits empfand sie Mitleid mit den Mädchen, deren Seelen von einer Clique Halbwüchsiger fast zerstört worden waren. Anderseits hatten sie gemeinsam Selbstjustiz geübt und Aletta die Schuld allein tragen lassen.
Konnte eine Schuld eine andere aufwiegen?
Die beiden Frauen kamen näher. Ihre Stimmen verstummten. Dann erkannten sie, wer da vor Alettas Grab stand.
»Oh, hallo, Frau Berner«, sagte Carmen leise und streckte ihr zögernd die Hand entgegen.
Der Mond trat hinter den Wolken hervor und tauchte die beiden Frauen in sein silbernes Licht. Sie hätten unterschiedlicher nicht sein können: Carmen Gerstner, knochig, blass, mit halblangem, dünnem Haar, und Maike Stoever, dick, ja geradezu massig, den dunkel gefärbten Schopf kurz geschnitten. Dennoch sah Sabine die Veränderung. Maikes Haar war nicht mehr blau und schien frisch gewaschen. Und hatte sie nicht abgenommen? Und Carmen sah nicht mehr ganz so elend aus, wie sie sie in Erinnerung hatte. Sie war beim Friseur gewesen und hatte sich blonde Strähnchen machen lassen.
Auch Maike reichte ihr die Hand. »Was tun Sie denn hier?«, fragte sie, eher müde als aggressiv.
»Vermutlich das Gleiche wie Sie«, antwortete die Kommissarin. »Ich habe erst meinem Vater Blumen gebracht und bin nun hier, um an Aletta zu denken. Sagt man nicht, ein Mensch stirbt erst dann, wenn ihn die Welt vergisst?«
Carmen beugte sich herab und steckte ein paar Blumen in eine der schmalen, grünen Plastikvasen.
»Da haben Sie recht. Sie wird in unseren Gedanken immer weiterleben!«
Das sollte sie auch, nach dem, was sie für Sie beide getan hat, dachte die Kommissarin, sagte aber laut: »Wie geht es Ihnen? Sie sehen besser aus. Und, Maike, schöner Haarschnitt! Haben Sie abgenommen?«
Maike wirkte ein wenig verlegen. »Ja, schon zwölf Kilo, und ich bleibe weiter
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