Engel der Verdammten (German Edition)
sehr lange tot gewesen sein konnte, als man sie in den Teppich gewickelt und nach Ohlsdorf gebracht hatte. Der Vampir hatte gesagt, der Anruf der Reißenbergers, den er mit angehört hatte, sei gegen ein Uhr erfolgt. Es behagte Sabine gar nicht, dass sie dieses Wissen nicht verwenden konnte. Nein, sie musste hoffen, dass es der Rechtsmedizinerin gelang, den Todeszeitpunkt genauer zu bestimmen und vor allem Spuren zu finden, an denen sie mit ihren Ermittlungen ansetzen konnten.
»Und, was gefunden?«, erkundigte sich Sönke, der mit dem Wasserkocher hantierte. Sabine rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf.
»Noch eine unbekannte Frau Mitte zwanzig mit einer durchgeschnittenen Kehle.«
»Und was machen wir jetzt?«, erkundigte sich Sönke und ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen.
»Du brauchst dich hier gar nicht so gemütlich einzurichten. Pack deine Sachen! Wir fahren auf den Kiez und fühlen dem Besitzer dieses Stundenhotels mal auf den Zahn. Und danach will ich bei Dr. Lichtenberg vorbeischauen.«
Bei der Erwähnung der Rechtsmedizinerin zog Sönke eine Grimasse. Nicht, dass er die junge Ärztin nicht schätzte. Sie war kompetent, besaß eine rasche Auffassungsgabe und nahm kein Blatt vor den Mund. Mit ihrer sportlichen Figur und dem dichten kastanienbraunen Haar war sie sogar eine Augenweide. Dennoch traf der Kriminalobermeister sie lieber außerhalb des Sektionssaales. Sönke hatte sich trotz seiner vielen Jahre bei der Kripo noch immer nicht daran gewöhnt, dabei zuzusehen, wie Menschen aufgeschnitten, in Stücke zerlegt und dann wieder zusammengepackt und zugenäht wurden. Anderseits, wer gewöhnte sich schon je wirklich daran? Sabine kam es jedes Mal wie ein zweiter Akt der Gewalt vor, der den Opfern angetan wurde, dennoch überwog ihre Wissbegierde und der Drang, alles zu tun, um die Täter zu überführen. Wenn man die Tat schon nicht wiedergutmachen konnte, wollte sie den Opfern wenigstens Gerechtigkeit widerfahren lassen. Nein, der Tod ließ sich nicht rückgängig machen.
Maulend ließ Sönke seinen noch fast vollen Teebecher zurück und folgte Sabine in die Tiefgarage.
Sönke überließ der Kollegin gern das Steuer, die mit einem der unauffälligen Dienstwagen nach St. Pauli fuhr. Wie so vieles im Umfeld der berühmten Reeperbahn machte auch dieses Haus bei Tageslicht einen schäbigen Eindruck. Hier in den Gassen ein wenig abseits der Reeperbahn war alles noch heruntergekommener als in der bunten Lichterwelt, die von den normalen Touristen besucht wurde. In den stillen Hinterstraßen war auch in der Nacht kein Glamour und kein Glanz zu finden, nur das Elend der Frauen, die hier Nacht für Nacht versuchten, ihren Körper meistbietend an den Mann zu bringen.
Sabine stieg aus dem Wagen und ließ den Blick das schmale Haus emporwandern, dessen schmutzig graue Fassade an mehreren Stellen abblätterte. Selbst zwei der gelben Leuchtbuchstaben, die verkündeten, dass dies ein Hotel sein sollte, waren zerbrochen.
»Sehr einladend«, kommentierte Sönke, der ihrem Blick gefolgt war.
Sabine nickte. »Ja, man kann sich gut vorstellen, wie die hygienischen Verhältnisse dort drinnen sind!« Es schüttelte sie unwillkürlich. »Werd ich mein Leben lang nicht verstehen.«
»Was?«, erkundigte sich ihr Kollege.
»Wie Männer wie dieser Dr. Jaspar, die ein Heidengeld verdienen und in der guten Gesellschaft verkehren, mit einer Prostituierten in solch ein Hotel gehen können, um ein wenig schnellen Sex zu haben. Ich könnte ja noch verstehen, wenn er seine Frau betrügt, weil in der Ehe nichts mehr läuft, und ja, vielleicht auch gekauften Sex mit einer attraktiven Frau in einem schönen Ambiente, aber das hier? Was gibt das den Männern? Bauen sie ihren Frust ab, indem sie sich einen billigen Körper kaufen? Suhlen sie sich ein wenig im Schmutz, bevor sie wieder in ihre saubere, wohlgeordnete Welt zurückkehren? Oder ist der Trieb so stark, dass sie das ganze Elend nicht einmal wahrnehmen? Was hat das mit Sexualität zu tun? Ich begreife es einfach nicht.«
Sönke hob abwehrend die Hände. »Das musst du nicht mich fragen. Ich kann dir das nicht beantworten, und sag nun nicht, ich wäre schließlich auch ein Mann. Ich hatte bisher weder eine Nutte auf dem Rücksitz meines Autos noch war ich je anders außer dienstlich in solch einer Absteige.«
»Hab ich ja auch gar nicht angenommen«, sagte die Kommissarin ein wenig zerknirscht.
»Das will ich dir auch geraten haben«, knurrte ihr Kollege.
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