Engel der Verdammten (German Edition)
Efeu verborgen, starrten sie aus toten Augen an. Engel mit moosgrünen Wangen, die Hände tröstend ausgestreckt oder zum Gebet erhoben. Ein Schauder erfasste Sabine. Der modrige Geruch, die kühle Feuchte des Herbstes, ja, hier war der Tod zu Hause. Nicht nur der sanfte Tod, der die Ruhe der Verstorbenen bewacht und den Überlebenden einen Ort der Trauer gibt. Auch der gewaltsame Tod war hier eingedrungen und hatte den Frieden zerstört.
Sabine sah das Grab bereits von Weitem. Welke Blumengebinde bedeckten den flachen Hügel der frischen Grabstätte, in der erst vor wenigen Tagen eine ältere Dame zu den Gebeinen ihres Mannes gebettet worden war, der hier bereits seit zwanzig Jahren auf sie wartete. Sabine trat heran und entzifferte die Daten auf dem provisorischen Holzkreuz, das schief neben dem Grabstein in der Erde steckte. Auch die Blumen wirkten irgendwie lieblos auf die schlammige Erde geworfen. Viele der Blüten waren abgeknickt. Hier hatte sich jemand zu schaffen gemacht!
Die Kommissarin beugte sich tiefer herab und ließ den Blick über das Kreuz wandern. Marianne Wandenbrink . Stolze dreiundneunzig Jahre alt war sie geworden, während ihr Gatte bereits mit sechsundsiebzig geholt worden war. Nun also hatte der Tod sie wieder vereint, doch statt ihre Zweisamkeit hier in der Ruhe des Friedhofs genießen zu können, war ihr Frieden vor zwei Nächten jäh gestört worden.
Während Sabine noch ihren Gedanken nachhing, verschwand der Vampir und kehrte kurz darauf mit einer Schaufel in den Händen zurück. Sabine streckte ihre Hand nach dem Holzstiel aus, doch Peter von Borgo ignorierte sie.
»Du kannst die Blumen vom Grab nehmen«, schlug er vor und begann, an einer Ecke zu graben.
Sabine bückte sich und legte Kränze, Gebinde und Blumensträuße zur Seite. »Geliebte Mutter« stand auf einer der Schleifen. »Unserer lieben Großmutter« auf einer anderen.
Die Schaufel stieß in den Boden. Erde und Sand wirbelten durch die Luft. Obwohl sich der Vampir nicht besonders anzustrengen schien, sah es so aus, als würde der Boden zu beiden Seiten davonfließen. Seine flinken Bewegungen waren lässig, kein Schweißtropfen glänzte auf seiner Stirn.
Plötzlich hielt der Vampir inne. Sabine drehte sich zu ihm um, den letzten Rosenstrauß in den Händen.
»Hast du etwas entdeckt?«
Die Nasenflügel des Vampirs bebten. »Kannst du den Tod riechen?«
Er deutete nach unten, wo Sabine einen schweren Stoff erahnen konnte. Ein Teppich?
Peter von Borgo bestätigte ihre Vermutung. »Ja, sie haben die Tote in einen Teppich gewickelt und sie dann hier neben dem Sarg von Frau Wandenbrink vergraben.«
Er nahm seine Arbeit wieder auf, und mit einer Mischung aus Faszination und Grauen sah Sabine, wie er eine schmutzige Teppichrolle freilegte, aus deren Ende zwei nackte Füße ragten.
Plötzlich ließ der Vampir die Schaufel sinken und witterte nach rechts. »Still! Wir bekommen Besuch.«
Es dauerte einen Moment, bis auch Sabine ein leises Knirschen auf dem sandigen Weg hören konnte. Das Licht einer Taschenlampe tanzte zwischen den Blättern einer Blutbuche. Die Kommissarin erstarrte. So standen sie stumm und bewegungslos neben dem halb geöffneten Grab und warteten, ob der späte Besucher oder wer immer um diese Zeit noch auf dem Friedhof unterwegs war, vorübergehen würde.
Behutsam legte der Vampir die Schaufel nieder. »Er kommt direkt hier vorbei«, sagte er und streckte seine Hand aus. »Komm, es wird Zeit zu gehen.«
»Nein, woher willst du das wissen? Wir müssen sie ganz ausgraben«, beharrte Sabine störrisch. Sie bückte sich und schlug den Teppich am oberen Ende auseinander. Tote Augen starrten sie aus einem bleichen Gesicht an.
Doch wie so oft behielt der Vampir recht. Die Schritte hielten weiter auf sie zu, und dann glitt der Lichtschein um die Ecke, strich über den Weg und verharrte auf dem geschändeten Grab.
»Komm!«, forderte der Vampir die Kommissarin noch einmal auf. »Unsere Arbeit hier ist getan.« Dieses Mal folgte sie seiner Aufforderung. Sie ließ den Teppich wieder über das tote Gesicht fallen und griff nach Peters Hand. Der Vampir zog sie davon, während ihnen die aufgeregten Schreie des Friedhofsaufsehers folgten. »Vandalen!«, brüllte er. »Ich kriege euch!«
Doch sie flogen schon zwischen den Bäumen und Büschen dahin. Ihre Füße berührten nur flüchtig Sandwege und feuchtes Gras. Der Wind sang in ihren Ohren und rauschte durch ihren Körper, oder war das ihr eigenes
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