Engel der Verdammten
sah die feinen Fältchen auf den Knöcheln; und dort, wo der Mensch sein Herz hat, fühlte ich einen Schmerz.
Dem glattzüngigen Typen sah man kein Zeichen von Schuld oder Scham oder etwa Schock an. Dass er so ruhig blieb, musste entweder völlige Unschuld oder unmäßige Schlechtigkeit sein.
›Großvater, das ist Irrsinn. Warum sollte ich so etwas tun? Ich bin ein Mann Gottes, genau wie du, Großvater!«
›Halt!‹, sagte der Rebbe. Er hob die Hand.
›Meine Anhänger hätten Esther niemals etwas angetan, sie -‹
›Halt!‹, sagte der Rebbe abermals. ›Rück heraus damit! Was willst du wirklich?‹
Irritiert und mit nervösem Lächeln schüttelte Gregory den Kopf. Er sammelte sich und begann von neuem. Seine Lippen zitterten, aber ich glaube, das konnte der alte Mann nicht so deutlich wahrnehmen wie ich.
Gregory hielt immer noch den Scheck wie eine Opfergabe in seiner erhobenen Linken.
›Es geht um etwas, über das ich dich einmal sprechen hörte‹, sagte er, sein Englisch flüssig und ganz natürlich. ›Nathan und ich waren im Zimmer. Ich glaube nicht, dass Nathan es gehört hat. Er war ... mit jemand anderem zusammen. Ich kann mich nicht einmal erinnern, wer sonst noch dabei war, außer Rivka, Mutters Schwester, und ich glaube, da waren ein paar alte Frauen. Aber es war schon hier in Brooklyn, wir waren gerade erst hergekommen. Ich könnte Nathan fragen -‹
›Lass deinen Bruder aus dem Spiel!‹, sagte der Alte, selbstsi-cher, gedämpft, und dieses Mal war sein Englisch genauso selbstverständlich für seine Zunge wie Jiddisch. Zorn kann eine Stimme ganz klar und akzentfrei machen. ›Komm Nathan nicht zu nahe. Lass deinen Bruder in Frieden! Du hast gerade noch gesagt, dass Nathan nichts gehört hätte.‹
›Ja, mir war klar, dass du das nicht willst, Rebbe. Du willst nicht, dass Nathan von mir angesteckt wird.‹
›Bleib bei der Sache.‹
›Deshalb bin ich zu dir gekommen. Erkläre mir, um was es ging, und ich werde meinen geliebten Bruder nicht damit belä-
stigen, aber ich muss es wissen.‹ Er fuhr fort. ›Damals, an jenem Tag, ich war noch ein Kind, da spracht ihr über ein Geheimnis. Etwas, das ihr den »Hüter der Gebeine« nanntet.‹
Ich war betroffen. Die Worte erwischten mich völlig unerwartet.
Der Schock festigte meine Gestalt noch zusätzlich. Ich wäre nicht verblüffter gewesen, wenn er sich umgedreht und mich entdeckt hätte. Ich befahl Kleidung herbei, um mich zu bedek-ken, Kleidung wie er, der Zaddik, sie trug. Und sofort spürte ich Seide auf meiner Haut, schwarz, wie der Rabbi sie trug, wärmend und gut sitzend. Die Luft hatte sich erwärmt, und die magere Glühbirne schwang leicht an ihrer zerfaserten Schnur.
Der Rebbe betrachtete die Birne eine Weile, dann wandte er sich wieder seinem Enkel zu.
›Ach, stehe still, Asrael‹, befahl ich mir selbst. ›Höre zu. Jetzt wirst du deine Antwort erfahren.‹
›Erinnerst du dich?‹, fragte der Jüngere. ›Ein Familiengeheimnis. Ein wertvolles Gut, das man »Hüter der Gebeine« nennt?‹
Der Alte erinnerte sich, aber er sagte nichts.
›Du sagtest‹, fuhr Gregory fort, ›dass einst ein Mann dieses Ding zu deinem Vater nach Prag brachte. Der Mann war ein Moslem, kam aus den Bergen. Du sagtest, dass der Mann deinem Vater dieses Ding gab, um Schulden zu tilgen.‹
Ah, also besaß dieser Zaddik die Gebeine! Aber er war nicht mein Gebieter, nein, und es würde auch nie dazu kommen.
Er warf seinem Enkel einen scharfen, aber verstohlenen Blick zu.
›Du sprachst zu der alten Tante Rivka‹, drängte Gregory. ›Und du hast ihr erzählt, was der Moslem gesagt hatte. Du meintest, dein Vater hätte so etwas niemals annehmen dürfen, nur war er verwirrt gewesen, weil auf der Truhe etwas in hebräischer Sprache stand. Du nanntest es ein wahres Gräuel; du sagtest, es müsse vernichtet werden.‹
Ich lächelte. Fühlte ich Erleichterung oder Ärger? Ein wahres Gräuel! Ich bin ein Gräuel. Und dieses Gräuel kann euch beide mitsamt diesem Raum voller Bücher vernichten; es kann dieses Haus bis auf die Grundmauern auseinandernehmen.
Aber wer hat mich gerufen?
Ich presste mir die Hand auf den Mund. In der Gegenwart eines Zaddik konnte ich mir nicht den leisesten unbeabsichtigten Seufzer oder Laut erlauben. Und auch kein Weinen.
Der Zaddik verhielt sich immer noch ruhig und veranlasste so den jüngeren Mann, noch mehr preiszugeben.
›Rivka fragte dich, warum du es nicht vernichtest‹, fuhr Gregory langsam und
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