Engel der Verdammten
wirklich wissen. Er erhob sich von seinem Stuhl und stand seinem Enkel Auge in Auge gegenüber.
›Du hast mir eine Frage gestellt‹, sagte er. ›Nun möchte ich etwas von dir wissen. Was ist es, das du von allen Dingen auf der Welt wirklich möchtest? Du bist unvorstellbar reich, so reich, dass unser Reichtum wie ein Tropfen im Ozean erscheint, dennoch baust du eine Kirche auf, die Tausende be-trügt, du formst Gesetze, die keine Gesetze sind. Du verkaufst Bücher und Fernsehprogramme, die nur leere Worte wieder-geben. Du wärst am liebsten Mohammed oder Christus! Und dann gehst du her und tötest deine Tochter. Ja, du hast es getan. Ich kann in dein Inneres sehen. Ich weiß, dass du sie getötet hast. Du hast diese Männer ausgeschickt. Ihr Blut klebte an der Waffe, mit der sie selbst getötet wurden. Hast du sie anschließend ebenfalls umgebracht? Oder haben deine An-hänger diese Mörder gedungen und dann aus dem Weg ge-räumt? Was hast du für einen Traum, Gregory, dass du so viel Böses und so viel Schande über uns alle bringst, dass man meint, der Messias müsse um deinetwillen jeden Moment erscheinen. Selbst Ihm würdest du noch die Entscheidung aus der Hand nehmen.‹
Ich lächelte. Das war eine schöne Rede. Obwohl ich mich nicht an Zurvan oder sonst irgendeine weise, redegewandte Person erinnern konnte, taute ich doch auf bei dieser Anspra-che, auch, weil sie mit solcher Überzeugung gehalten wurde.
Ich mochte den Alten ein klein wenig besser leiden.
Gregory spielte jetzt ein wenig den Trauernden, aber er schwieg. Lass den Alten doch toben, war seine Haltung.
›Meinst du, ich wüsste nicht, was du getan hast?‹, sagte der Rabbi. Er ließ sich wieder in den Stuhl fallen, denn sein Wut-ausbruch hatte ihn ermüdet. ›Ich weiß es. Ich kenne dich seit dem Tag deiner Geburt, besser als jeder andere. Selbst Nathan, der doch dein Zwillingsbruder ist, kennt dich nicht so gut.
Nathan betet für dich, Gregory‹
›Aber du nicht, Großvater, oder? Du hast schon alle Gebete für mich gesprochen, nicht wahr?‹
›Ja. Ich sprach das Totengebet damals für dich, als du mein Haus verließest, und wenn mir der Himmel ein Zeichen senden würde, würde ich eigenhändig ein Ende mit dir und dem
»Tempel vom Geiste Gottes« und deinen Lügen und hinterhältigen Plänen machen.‹
Tätest du das tatsächlich?
›Das kann man leicht behaupten, Großvater‹, sagte Gregory ungerührt. ›Wenn man ein himmlisches Zeichen bekommt, kann man leicht handeln! Ich lehre meine Anhänger die Liebe in einer Welt ohne himmlische Zeichen!‹
›Du lehrst sie, dir ihr Geld zu geben. Du lehrst sie, deine Bü-
cher zu verkaufen. Wirst du noch einmal laut gegen mich, verlässt du dieses Haus ohne deine Antworten. Dein Bruder weiß nichts über das, wovon du sprachst, über diese alten Erinnerungen aus Kindertagen. Er war nicht dabei. Ich kann mich an diesen Tag sehr gut erinnern. Sonst lebt niemand mehr, der davon wusste.‹
Gregory hob die Hand. Friede, Nachsicht.
Ich war hellwach und gespannt. Ich lauerte auf das nächste Wort.
›Großvater, sage mir nur, was es bedeutet, dieses »Hüter der Gebeine«. Bin ich ein solcher Dreck, dass es dich entweiht, mir zu antworten?‹
Der Alte zitterte. Er hatte die Schultern hochgezogen unter dem schwarzen kragenlosen Mantel. Er bebte, und im Licht sahen seine Knöchel rötlich und wund aus. Das Licht floß über seinen weißen Bart und die durchscheinenden Augenlider, als er jetzt den Kopf schüttelte und sich vor und zurück wiegte, als bete er.
Ganz glatt wieder Gregorys Stimme: ›Großvater, mein einziges Kind ist tot, und ich komme zu dir mit einer schlichten Frage. Warum sollte ich Esther töten? Du weißt doch selbst, dass es keinen einzigen Grund auf der Welt gibt, weswegen ich Esther etwas antun sollte. Was kann ich dir geben, damit du meine Frage beantwortest? Erinnerst du dich an diese Geschichte, an diesen »Hüter der Gebeine«? Hatte dieses Ding einen Namen? Hieß es Asrael?‹
Der alte Mann war wie gebannt.
Ich übrigens auch.
›Ich habe diesen Namen nie genannt‹, sagte der Alte.
›Nein, du nicht. Jemand anders‹, antwortete Gregory.
›Wer hat dir davon erzählt? Wer könnte das gewesen sein?‹, verlangte der alte Mann zu wissen.
Das brachte Gregory durcheinander.
Ich lehnte mich gegen das Bücherregal und beobachtete, während meine Finger an den lose hängenden Lederfetzchen eines Buchrückens spielten. Mache sie nicht kaputt. Nicht die
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