Engel der Verdammten
geduldig fort, ›und du sagtest, das sei nicht so einfach. Du sagtest, es sei das Gleiche wie mit den Schriftrollen, die man auch nicht endgültig vernichten darf. Und dann erwähntest du wieder etwas Schriftliches, ein Dokument. Erinnerst du dich, Großvater, oder träume ich nur?‹
Die Augen des Alten blickten kalt. ›Das war, als du noch auf meinen Knien saßest?‹, murmelte er. ›Und warum fragst du jetzt danach?‹
Plötzlich hob er die Hand, ballte sie zur Faust und ließ sie auf das Pult niedersausen. Nichts rührte sich, nur Staub stieg auf.
Gregory blinzelte nicht einmal.
›Warum kommst du hierher an dem Tag, an dem deine Tochter unter die Erde gebracht wird, und fragst nach diesen alten Geschichten?‹, grollte der alte Mann aufgebracht. ›Diese Sa-ge, dieser geheimnisvolle Schatz, wie du es nennst, von dem du hörtest, als du noch mein Stolz warst, mein eloi, mein glänzender ausersehener Schüler! Warum kommst du mir jetzt damit?‹ Ein bedrohliches Zittern hatte ihn gepackt.
Gregory wahrte ein wohl berechnetes Schweigen, schließlich holte er tief Luft.
›Rebbe‹, sagte er, ›mit dem Scheck kann man so manches kaufen.‹
›Antworte auf meine Frage! Geld haben wir selbst. Wir sind durchaus reich. Wir waren schon reich, als wir Polen verlie-
ßen. Wir waren reich, als wir Israel verließen. Antworte. Warum fragst du nach diesen Geschichten?‹
Hier in diesem Raum war zwar von Reichtum nichts zu sehen, aber ich glaubte ihm trotzdem.
Ich kannte seinesgleichen. Das Studium der Thora war ihr Leben, die Einhaltung der Gesetze, Beten und die Beratung derer, die täglich zu ihm kamen, überzeugt davon, er könne in die Seelen der Menschen sehen und Wunder bewirken, die glaubten, er sei ein Werkzeug Gottes. Reichtum würde das Leben eines solchen Mannes um keinen Deut ändern, höchstens insofern, als er sich erlauben konnte, nach Belieben Tag und Nacht die Thora zu studieren.
Ich spürte meinen Puls heftig pochen. Ich fühlte Luft in mir zir-kulieren. Meine Kraft hatte stetig zugenommen, seit die ersten Worte gefallen waren. Die Gebeine mussten hier sein. Ja, er hatte sie, und auf irgendeine Weise hatte er mich aufgeweckt und herbeschworen. Er hatte die Hände darauf gelegt oder die Worte gelesen oder das Gebet gesprochen ... es musste dieser alte Mann hier sein, aber wie konnte das zustande kommen, und warum hatte ich ihn nicht auf der Stelle vernichtet?
Wie ein Komet flammte in meinem Gedächtnis ein Gesicht auf, ein Gesicht, das ich kannte und liebte. Hunderte von Jahren wurden in einem Augenblick überbrückt. Es war das Gesicht Samuels, von dem ich dir erzählt habe. Samuel von Straß-
burg. Dies war der Gebieter, der mich verkauft hatte für die Sicherheit seiner Kinder, so wie ich mich möglicherweise für die Kinder Gottes einst verkauft habe. Vor meinem inneren Auge stand die Truhe.
Wo war sie jetzt?
Es war eine bittere Erinnerung, ein Bruchstück nur; ich wollte sie nicht. Anklagen würden mich nur ablenken, und nicht ein bisschen dieser Vergangenheit, betraf sie auch Samuel, konnte man noch ändern.
Ich stand in diesem warmen Zimmer in Brooklyn, wieder einmal mit einem alten Gelehrten, umgeben von staubigen Bü-
chern, Bannsprüchen, Zauberformeln, Beschwörungen, und ich hasste den Alten. Ich verachtete ihn. Doch er war wesentlich tugendhafter, als Samuel je gewesen war, besonders als er mich in seinem letzten Augenblick zur Hölle schickte.
Ich hasste den Rebbe fast so sehr, wie sein Enkel ihn hasste.
Und der Enkel?
Was bedeutete er mir, dieser glattzüngige Gregory Belkin mit seiner weltumspannenden Sekte? Aber wenn er Esther getötet hatte...
Ich hielt an mich. Ich ließ meinen Gefühlsausbruch und meinen Schmerz in mir zusammensinken, ich verlangte von mir selbst nur, lebendig zu sein und still. Und genau so verhielt sich der Jüngere in seinem fürstlichen Putz, er wartete genauso geduldig, dass die Gereiztheit des Zaddik nachließ.
Wieder verlangte der zu wissen: ›Warum fragst du ausgerechnet jetzt danach?‹
Ich dachte an das zierliche Mädchen, das, auf der Trage ausgestreckt, mir den Kopf zugewandt hatte. Ihre gehauchten Worte waren gütig und von Scheu erfüllt. Hüter der Gebeine.
Plötzlich konnte der alte Mann seinen Ärger nicht mehr im Zaum halten. Er ließ Gregory gar keine Zeit zu antworten. Er stieß weitere wütende Fragen hervor.
›Was treibt dich an, Gregory?‹, fragte er auf Englisch. Er schlug einen persönlichen Ton an, als wolle er es
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