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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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durch Lärm und Rauch hinauf in den Himmel über der Stadt, deren Lichter unter mir in exquisiter Schönheit durch die Wolken funkelten; das Gewicht, das der Schal in meinem Astralkörper erzeugte, war wie ein großer Stein, der mein Fortkommen hemmte und mich mit dem Wind treiben ließ - es fühlte sich seltsam schön an.
    Wie Vögel es empfinden mögen, überlegte ich.
    Rachel, Rachel, Rachel. Ich sah sie vor meinem geistigen Au-ge, nicht kreischend wegen meines Verschwindens, sondern so, wie sie mir gegenübergesessen hatte, mit ihren großen, harten Augen und den silbernen Strähnen, die in ihrem Haar schimmerten, als hätten ein Dutzend Sklaven sie als Schmuck hineingefädelt, um damit ihrem Alter Herrlichkeit zu verleihen.
    Innerhalb von Sekunden hatte ich das Gefühl, in ihrer Nähe zu sein. Ich konnte sie schon beinahe sehen, denn sie bewegte sich ebenso schnell durch die Nacht wie ich. Ich umkreiste sie, hob mich dann über sie hinweg und näherte mich ihr von oben. Ihr Bild war verwoben mit Bewegung und Licht, sodass ich sie nur undeutlich wahrnahm. Ach, das Flugzeug! Es flog so schnell, ich konnte nicht hinein, ich war mir meiner selbst nicht sicher genug, um es wagen zu können. Ich wusste einfach nicht, ob meine Kraft dafür ausreichte, ob ich in einer Maschine, die sich so schnell fortbewegte, genügend Materie für einen realen Körper um mich sammeln konnte. Die ganze Technik, aus der das Flugzeug bestand, schien mir so voller Widersprüche und fragwürdiger Apparate. Ich stellte mir vor, wie mich irgendeine grässliche Katastrophe zurück in das Dunkel der Auflösung schleudern würde und wie ich nicht mehr fähig wäre, mich wieder aufzurappeln. Geschähe das, würde der Schal natürlich zur Erde trudeln wie die Blätter eines verbrannten Waldes, vom Wind hierhin und dorthin getragen, bis er die tieferen Luftschichten erreichte und in Form eines Häufchens auf dem Boden landete. Esthers Schal, fern von den Menschen, die sie geliebt, den Dingen, mit denen sie verbunden gewesen war. Esthers Schal in irgendeinem winzigen Nest - unter uns lagen eine Menge kleiner Städtchen. Ich trieb dahin, ohne mich entscheiden zu können. Schließlich beschloss ich, dass ich Rachel auf jeden Fall aufsuchen wür-de. Ich wollte abwarten und folgte dem Flugzeug, das mich durch die Nacht leitete wie ein Glühwürmchen.
    Jetzt befanden wir uns über dem der Küste vorgelagerten Meer. Die Maschine zog Kreise und begann zu sinken. Unter mir tauchte aus den Wolken ein prachtvoller Anblick auf: das sich in der warmen Luft ausbreitende Miami. Und auch die Luft war herrlich, eine vom Duft der See geschwängerte, feuchte Luft, eine Luft, wie sie mir aus einer lieblichen antiken Stadt vertraut war, die ich einst als ein sehr glücklicher Geist, Schü-
    ler eines weisen Mannes, gekannt hatte. Fast konnte ich ...
    Doch nein, ich musste mich konzentrieren. Unter mir wie ein Strom die wundersam getönten Lichter, die den Ocean Drive ausmachten. Ich sah ihn so deutlich, als läse ich es von einer Karte ab, und auch das Gebäude mit dem rosafarbenen Signallicht fand ich. Es stand als letztes Haus auf dem knochigen Finger der Halbinsel.
    Langsam sank ich zur Erde nieder, nicht in unmittelbarer Nähe des Gebäudes, sondern einige Häuserblocks entfernt mischte ich mich schnell unter die Menge, die zwischen dem Strand und einer Reihe Cafes die Straße bevölkerte. Die warme Luft war großartig und erzeugte übermütige Heiterkeit in mir, ließ mir aber gleichzeitig beim Anblick des Meeres und der wunderschönen Wolkenberge am Himmel fast Tränen in die Augen steigen. Ich dachte, wenn ich denn sterben musste, wäre dies auch für mich der beste Ort.
    Die Leute, die ich rings um mich sah, waren erstaunlich unterschiedlich, völlig anders als die emsigen Menschen New Yorks. Die hier gingen ihrem Vergnügen nach. Alle waren sie ganz annehmbar, begutachteten einander, waren aber dennoch recht tolerant denen gegenüber, die in Stil und Kleidung von ihnen abwichen. Es war ein bunter Haufen von sehr jungen Leuten, alle in auffällig offenherziger Kleidung, und dazwischen ganz normale oder sehr alte Leute.
    Aber ich merkte, meine Kleidung passte nicht hierher. Ich schaute mir die Männer an. Die Männer trugen weite Hemden, kurze Hosen und Sandalen. Nein. Da drüben ging ein Mann in einem sehr schönen Anzug, wie Gregory ihn getragen hatte, aber weiß, dazu ein Hemd mit offenem Kragen. Den Stil wähl-te ich für mich. Als ich den Boden berührte,

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