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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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hatte mindestens fünfzig Stockwerke. Ich kann Dinge, die der Zahlen be-dürfen, nicht so ohne weiteres korrekt erfassen. Wir waren vorhin im fünfundzwanzigsten Stockwerk gewesen. Ich sank langsam abwärts, dabei spähte ich in die Fenster der einzelnen Etagen, um zu erkennen, wo private Wohnräume waren.
    Büros, Hunderte von Büros sah ich. Dazwischen Compu-terräume und, zu meiner Verblüffung, Labors, aufwändig eingerichtet, in denen Leute emsig winzigste, unter Mikroskopen liegende Dinge studierten und Tränke in Phiolen abmaßen, die sie dann sorgfältig verschlossen.
    Was war das alles? Gehörte das zu Gregorys religiösem Sturmtrupp? Drogen für seine Anhänger? Spirituell anregende Medizin, wie dieses Soma, das die persischen Sonnenanbeter benutzten?
    Aber es gab hier solche Unmengen von Laboratorien! Männer und Frauen liefen in sterilen weißen Anzügen und Masken herum, das Haar sorgfältig unter weißen Hauben verborgen.
    Riesige Kühlschränke gab es mit Aufschriften, die vor Konta-mination warnten. Tiere hockten in Käfigen - kleine graue Affen mit ängstlichen, weit aufgerissenen Augen, die von Ärzten gefüttert wurden.
    In einer Abteilung bewegten sich die Leute schwerfällig in grellgelben Plastikanzügen und Helmen, die eines modernen Kriegers würdig gewesen wären. Ihre Hände steckten in riesigen plumpen Handschuhen. Die Äffchen, die ganz ihrer Gnade anheim gegeben waren, schnatterten aufgeregt, aber unbeachtet in ihren kleinen Gefängnissen. Einige lagen hingestreckt von Krankheit oder Furcht. Sehr merkwürdig, dachte ich, wessen Geistes ist dieser Tempel?
    Schließlich hatte ich mich bis etwa zum zwölften Stockwerk vorgearbeitet, und dort sah ich dann das große Halbrund des Wohnraums, in dem ich mit Gregory gestritten hatte. Die Fensterfront war keine Schwierigkeit für mich, und durch die Flure bewegte ich mich so leicht, dass die Bewegungen der Türen wie durch eine leichte Brise verursacht schienen. Ich fand Esthers Bett, daneben ein Bild in einem silbernen Rahmen, das ein lächelndes Mädchen zeigte, zusammen mit anderen Mädchen. Und auf dem schneeweißen Bettüberwurf lag der schwarze, perlenbesetzte Schal, ordentlich gefaltet. Ich war entzückt. Als ich den Raum betrat, roch ich Esthers Parfüm.
    Hier hatte sie geschlafen, geträumt.
    Auf dem Frisiertisch sah ich Ringe und Ohrringe und Armrei-fen, alle mit Diamanten besetzt, ein kleines Häufchen Schmuck, alles sehr zierlich und hübsch gearbeitet, aus Silber oder Gold. An den Wänden hingen Fotografien - Gregory, Esther, Rachel - aus den letzten Jahren, eine war auf einem Boot aufgenommen worden, eine andere am Strand, dort eine von einer Feier, einer Festlichkeit, zu der man ein Abendkleid trug.
    ›Esther, sag, wer hat es getan? Und warum? Würde er dich denn töten, nur weil du über seinen Bruder Nathan Bescheid wusstest? Warum sollte das für ihn so wichtig sein?‹
    Doch dieser Raum verriet nichts. Ihre Seele war geradewegs zum Himmel aufgefahren und hatte jedes jemals erfahrene Fünkchen Schmerz und Freude mit sich genommen. Nichts war hier zurückgeblieben. Ach, ermordet zu werden und so unbehindert aufzusteigen in höhere Gefilde!
    Ich schwebte auf den Schal zu. Als ich den Stoff in meiner Hand hielt, verdichtete sie sich unter dem Gewicht des Stoffes.
    Das Tuch, eine herrliche Arbeit, hatte ein Mittelteil aus Spitze und war über und über mit winzigen schwarzen Perlen bestickt, ganz wie ich es in Erinnerung hatte. Es war erstaunlich schwer, wirkte fast wie ein Schultertuch oder eine Stola. Es passte so ganz und gar nicht in diese Zeit. Es wirkte irgendwie exotisch, und vielleicht hatte gerade das an ihm Esther gereizt.
    Die Dunkelheit wogte um mich. Verwandle dich in Fleisch und Blut. Ich tat es. Etwas blitzte vor meinen Augen auf, fegte an mir vorüber, undeutlich und schattenhaft. Es war nur eine ver-irrte Seele, deren Körper vielleicht nicht begraben worden war, die mich mit einem Engel verwechselt hatte und nun davon-huschte. Das hatte nichts mit diesem Zimmer zu tun. Ich sandte ihr eine Verwünschung nach und widmete mich wieder der materiellen Welt.
    Als ich den Schal fest mit meinen Händen umschloss, gab ich mich wieder dem Schwindel erregenden Gefühl hin, körperlich zu sein, ohne jemandem gehorchen zu müssen. Dann ließ ich die Partikel, die meinen Körper ausmachten, aufs Neue verschwinden und wickelte mich in meiner spirituellen Gestalt um den Schal, um ihn so transportieren zu können.
    Ich brauste

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