Engel der Verdammten
als ich.
Ich wollte ihn umarmen, und er wartete gar nicht ab, dass ich ihn um Erlaubnis bat, sondern sagte: ›Tu es, doch sei dir klar, dass mich in dem Moment auch andere wahrnehmen könnten.‹
Ich schloss ihn in die Arme und drückte ihn fest an mich, ihn, meinen ältesten Freund, den ich nach meinem Vater am meisten hebte. Und in dieser Nacht machte ich den Fehler, meinem Vater zu erzählen, dass ich ständig mit diesem meinem Gott sprach. Das hätte ich niemals tun dürfen. Ich frage mich noch heute, was geschehen wäre, wenn ich geschwiegen hät-te.«
Ich unterbrach ihn: »Hatten ihn denn auch andere Leute wahrgenommen?«
»Ja, so war es, jemand sah ihn. Es war der Türhüter unseres Hauses, und er fiel beinahe tot um, als er einen über und über goldbedeckten Mann sah; und eine meiner Schwestern sah ihn, die durch das Gitterwerk über der Tür lugte, und einer unserer Ältesten erhaschte einen Blick auf ihn; der ging später am Abend mit seinem Stock auf mich los und behauptete, er wisse zwar nicht, mit wem er mich gesehen habe, aber es müsse ein Engel oder ein Teufel gewesen sein. Und da sagte mein Vater, mein geliebter, netter, gutmütiger Vater: ›Das war Marduk, der Gott Babylons, den du gesehen hast!‹ Und vielleicht ... vielleicht sitzen wir wegen jener Worte nun hier. Mein Vater hatte nie die Absicht, mir Leid zuzufügen. Niemals. Er hatte nie die Absicht, mir etwas Grauenvolles anzutun! Das hat er nicht gewollt! Er war ... er war eine Art jüngerer Bruder für mich.
Das muss ich wohl erklären. Ich habe es mir so zurechtgelegt: Ich war sein ältester Sohn, wurde geboren, als mein Vater selbst noch sehr jung war, denn weil die Deportation unser Volk sehr geschwächt hatte, heirateten die jungen Leute extrem früh, um Söhne zu zeugen. Mein Vater war, sozusagen, das Baby der Familie, der Benjamin, von allen geliebt und verhätschelt, und irgendwie kam es so weit, dass ich mich mehr als sein älterer Bruder fühlte und ihn auch so behandelte. Als ältester Sohn kommandierte ich ihn ein wenig herum. Vielleicht sollte ich eher sagen, wir waren ... waren wie Freunde.
Mein Vater arbeitete hart. Doch wir waren sehr vertraut miteinander. Wir tranken gemeinsam, besuchten gemeinsam die Tavernen, hatten die gleichen Frauen. Und betrunken, wie ich in jener Nacht war, erzählte ich ihm, dass Marduk schon all die Jahre mit mir gesprochen hätte, dass ich ihn nun endlich gesehen hatte und dass mein ganz persönlicher Gott der Gott Babylons war.
Das war töricht von mir! Wie hätte das gut gehen können! Zuerst lachte mein Vater. Dann war er bekümmert, und schließ-
lich konnte erseine Gedanken nicht mehr davon abwenden.
Oh, ich hätte es nie erzählen sollen. Das war auch Marduk klar. Er war ebenfalls in der Taverne, doch so weit entfernt von uns, dass er ganz durchsichtig war, er war wie Rauch und goldenes Licht, und nur ich konnte ihn wahrnehmen. Und er sagte ›Nein‹ und schüttelte den Kopf und wandte sich ab, als ich meinen Vater auf ihn aufmerksam machen wollte. Aber weißt du, ich liebte meinen Vater, und ich war so überschwänglich!
Ich wollte, dass er es erfuhr. Ich wollte ihn wissen lassen, dass ich den Gott in meinen Armen gehalten hatte!
Einfach nur töricht!
Gestatte mir, auf Allgemeines zurückzukommen. Das Konkrete ist plötzlich zu heiß für mich, es schmerzt mich und sticht wie Nadeln in meinen Augen.
Die Familie. Ich habe gerade erzählt, was wir waren. Wir waren reiche Kaufleute, und wir waren Schriftgelehrte, die die Heiligen Bücher abschrieben. Und Letzteres galt eigentlich auf die eine oder andere Weise für alle in Babylon, die hebräischer Abstammung waren. Alle stellten sie Abschriften für ihre eigenen Familien her; doch meine Familie hatte daraus ein einträgliches Geschäft gemacht, da wir bekannt für unsere schnellen und akkuraten Abschriften waren. Außerdem hatten wir eine große Bibliothek mit alten Texten. Vielleicht erwähnte ich es schon, wir hatten schätzungsweise - genau weiß ich es nicht - fünfundzwanzig Texte allein über Joseph aus Ägypten und Moses und so weiter, und wir disputierten ständig, was in den Texten bleiben, was ausgelassen werden sollte. Über Joseph gab es so viele Berichte, dass wir sie einfach nicht alle berücksichtigen konnten. Ich frage mich, was aus all den übrigen Tontafeln und Schriftrollen geworden ist. Wir glaubten einfach nicht, dass jede Geschichte der Wahrheit entsprach.
Aber vielleicht hatten wir auch Unrecht. Ach, wer
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