Engel der Verdammten
Ach, so viel Liebe.«
Es war nur natürlich, dass er hier abbrach. Er saß da, prächtig in seinem roten Samtgewand, mit dem glänzenden Haar und der glatten, reinen Jünglingshaut, weich wie die eines Mädchens. Ich werde wohl wirklich langsam alt. Denn ich finde junge Männer nun genauso schön wie Mädchen. Nicht dass ich sie begehre. Nur geben sie mir nun ein Gefühl dafür, dass das Leben an sich voller üppiger Genüsse ist.
Asrael war verwirrt. Schmerz erfüllte ihn. Ich zögerte, ihn weiter zu drängen. Dann öffnete er die Lippen; doch er verharrte schweigend.
3
»Wie war das, im Tempel, im Palast umherzustreifen?«, fragte ich ihn. »Das Haus kann ich mir vorstellen, es muss wunderschön gewesen sein. Aber wie war das mit dem Palast? War er wirklich von oben bis unten vergoldet? Und auch der Tempel?«
Er reagierte nicht auf meine Worte.
»Beschreibe mir alles ganz anschaulich und bildhaft, Asrael, damit gönnst du dir eine kleine Atempause. Erzähl mir zum Beispiel von dem Tempel, wie war der?«
»Ja«, sagte er, »der Tempel war ein Gebilde aus Gold und edlen Steinen, in dem schimmernde Kostbarkeiten, liebliche Düfte und der fortwährende Klang der Harfen und Flöten ihre eigene pulsierende Welt erzeugten, eine Welt, in der der ent-blößte Fuß über spiegelglatte, in Blütenmustern verlegte Ka-cheln schritt.« Er lächelte.
»Und es war um einiges lustiger dort, als du dir vielleicht vor-stellst. Gar nicht todernst. Natürlich waren die beiden Gebäu-de riesig. Du weißt, Nebukadnezar baute diesen Palast zu Ruhm und Ehren der babylonischen Vergangenheit - so glaubte er zumindest. Er vergrößerte die königlichen Gärten um ein Beträchtliches; und der Tempel war das große Gebäude, das man als Esagila kennt. Dahinter erhob sich der gewaltige Zikkurat Etemenanki, dessen Stufen bis in den Himmel ragten, und seine Rampen verliefen bis hinauf zum obersten Tempel, der meinem erhabenen, lächelnden Lieblingsgott geweiht war.
Im Tempel wie im Palast gab es unzählige, mit Siegeln verschlossene Türen. Manche dieser Siegel waren seit ewigen Zeiten nicht aufgebrochen worden. Und wie du sicher weißt, versiegelte man auch Verträge auf die gleiche Weise ... man ritzte den Vertragstext in eine Tontafel und hüllte sie nach dem Trocknen wiederum in einen Umschlag aus Ton, auf dem der gleiche Wortlaut stand. War beides erst einmal getrocknet, konnte man nicht an die innere Tafel heran, ohne die Hülle zu zerbrechen. Änderte also ein unredlicher Mensch auf dem Umschlag etwas ab, zeigte dennoch die innere Tafel den wahren Wortlaut. Das kam gar nicht so selten vor; jemand legte seinen Vertrag vor, weil er beim Öffnen der Hülle feststellte, dass ein hinterhältiger Gauner den Inhalt gefälscht hatte; dann musste der König mit seinen Beratern und Weisen für Gerechtigkeit sorgen. Ich bin jedoch nie den Verurteilten zum Richt-platz gefolgt. Wie du schon sagtest, man erzog mich unter ästhetischen Gesichtspunkten.
Nie sah ich Hungernde in den Straßen Babylons. Und elende Sklaven auch nicht. Babylon war eine traumhafte Stadt, in der jeder gern gelebt hätte. Jedermann dort war glücklich und zufrieden und unter dem Schutz des Königs.
Aber zurück zu deiner Frage: Man konnte im Tempel umherstreifen, einfach nur so. An den Füßen meine feinen, juwelen-bestickten Pantoffeln, so schlich ich in die Kapellen der verschiedenen Götter - Nabu und Ischtar, und wer sonst von den Göttern und Göttinnen anderer Städte hier Unterschlupf gefunden hatte. Weißt du, das kam immer wieder vor. Immerhin war Kyros, der Perser, auf dem Vormarsch, und entlang der Küste nahm er eine griechische Stadt nach der anderen ein. Und so gaben verängstigte Priester aus ganz Babylonien ihre Götterstatuen in unseren Schutz, und diese Gottheiten, unsere Gäste sozusagen, bekamen ihre eigenen Kapellen, wo sie dann inmitten flackernder Lichter ihren Platz hatten.
Diese Furcht um den Gott, die Furcht, dass der Feind die Gottheit erobern könnte, war eine ganz reale Furcht. Marduk war selbst zweihundert Jahre lang der Gefangene einer anderen Stadt gewesen, man hatte ihn gestohlen und fortge-schleppt, und es war ein erhebender Tag für Babylon gewesen, als man ihn gefunden und wieder heimgebracht hatte - das war jedoch lange vor meiner Geburt.«
»Hat er dir je davon berichtet?«, fragte ich.
»Nein«, antwortete er. »Aber ich habe ihn auch nie danach gefragt. Zu dergleichen kommen wir noch ...
Wie ich schon sagte, ich streifte
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