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Engel der Verdammten

Engel der Verdammten

Titel: Engel der Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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für viele Jahrhunderte deinen Platz im Tempel von Esagila einnehmen und dort unsere Trankopfer entgegennehmen.
    Sei du unser Gott! Wenn du ihn je wirklich gesehen hast, so sei du nun er! Wie hätte er werden können, was er ist, wenn nicht durch uns?‹
    Sie brachten ein Polsterbett für mich herbei, und ich legte mich darauf nieder und schloss die Augen. Wer weiß? Vielleicht war ich ja zu Hause und träumte nur. Aber nein. Sie begannen, mich zurechtzumachen. Ich lag da mit geschlossenen Augen, drehte mich zur Wand oder zu ihnen, fühlte Hände auf meinem Körper, die mir Haare und Bart stutzten, mir die Nägel auf genau die richtige Länge schnitten, und wenn es nötig war, hob ich meine Glieder, sodass sie mich entkleiden und waschen konnten. Und dann wurde es dunkel. Nur das Feuer unter dem Kessel brannte.
    Ich hörte die Alte, die Wörter in sumerischer Sprache vortrug.
    Es war eine Formel für eine Mischung aus Gold und Blei und Kräutern und Tränken, manche waren mir bekannt, andere konnte wohl nur eine Zauberin kennen, doch so viel verstand ich, dass es eine tödliche Mischung war.
    Mir wurde auch klar, dass in diesem Gebräu Samen enthalten waren, die man sonst kaute, um Visionen zu haben, und auch Tränke, die man benutzte, um ausschweifende Träume zu erzeugen, und ich wusste, diese betäubenden Mittel würden meine Schmerzen lindern und meine Gedanken verwischen.
    ›Wer weiß, vielleicht verpasse ich meinen eigenen Tod‹, dachte ich.
    Remath näherte sich mir. Sein Gesichtsausdruck war schlicht, und ich sah keine Spur seiner sonstigen Bosheit. Er klang beinahe kummervoll.
    ›Wir werden dir erst im Morgengrauen die letzten Gewänder anlegen‹, sagte er. ›Sie liegen im Nebenzimmer bereit. Noch kocht das Gold, doch es wird bis dahin abgekühlt sein, du brauchst keine Furcht zu haben, es wird kühl und dickflüssig sein, wenn wir es auf deine Haut auftragen. Nun, was können wir dir anbieten, Marduk, du unser Herr Gott, was können wir dir bieten, um dich heute Nacht ein wenig glücklich zu machen?‹
    ›Ich glaube, ich möchte mich schlafen legen‹, sagte ich, ›ich habe Angst vor dem kochenden Gold.‹
    ›Das brauchst du nicht, es wird kalt sein‹, mischte sich Asenath ein. ›Du weißt, du musst drei Tage durchhalten, während derer das Gold in deine Haut dringt. Es wird kalt sein; denn du musst ein lächelnder Gott sein, so lange du nur kannst, ein Gott, der die Hand heben kann, ein Gott, der sieht.‹
    ›Ja, es ist gut, geht jetzt.‹
    ›Willst du nicht zu unserem eigenen Gott beten?‹, fragte Asenath.
    ›Ich würde es nicht wagen‹, hauchte ich.
    Ich wandte ihnen den Rücken zu und schloss die Augen. Und so merkwürdig das klingt, ich schlief tatsächlich ein.
    Sie deckten eine herrlich weiche Decke über mich. Das tat mir gut.
    Pure Erschöpfung ließ mich schlafen, als läge diese schwere Prüfung schon hinter mir. Ich schlief. Was ich träumte, weiß ich nicht mehr. Wozu wäre es auch gut? Ich erinnere mich, dass ich über mich selbst verwundert war, weil ich kein Verlangen hatte, Marduk noch einmal zu sehen; ich erinnere mich daran, dass ich dachte: Wieso ist das so? Warum weine ich nicht an seiner Schulter? Aber das war es ja gerade, ich suchte keine Schulter mehr zum Weinen. Man hatte mir den tödlichen Schlag versetzt. Ich wusste nicht, was vor mir lag. Der Rauch, der Nebel, die göttliche Flamme oder eine Macht, wie Marduk sie hatte. Wie sollte ich das wissen? Und er wusste es auch nicht.
    Ich glaube, ich begann zu singen, den Psalm, den ich so sehr liebte, und dann dachte ich: ›Zur Hölle damit, Jerusalem wird ihnen gehören, nicht mir.‹
    Ich hatte eine Art Vision. Ich glaube, etwas von Hesekiel, den wir zu Hause allzu häufig kopierten und dessentwegen wir uns ständig gestritten und heftig argumentiert hatten ... die Vision eines Tals, angefüllt mit Gebeinen, die Gebeine aller Toten der Welt, Gebeine von Männern, Frauen, Kindern. Und ich sah sie nicht etwa auferstehen, ich sah sie nicht dem Leben zurück-geschenkt. Ich sah sie einfach nur vor mir und dachte: ›Um dieses Tals willen tue ich dies, nur deshalb, für uns alle, die einfach nur menschlich sind.‹
    War ich zu stolz? Ich weiß es nicht. Ich war jung, ich wollte nichts für mich. Ich schlief. Und zu früh, allzu früh, kamen die Lampen und das Licht, und die Sonne strahlte auf Marmorbö-
    den, die von den Türen dieses tief im Palastinnern gelegenen Raumes weit entfernt waren.«

    6

    »Mir war schwindlig.

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