Engel der Vergessenen
mich?«
Karipuris Stimme versank wie in Watte. Das Eucodal wirkte, die Schmerzen glitten von ihm, wie ein Hemd, das man über den Kopf zieht. Oberst Donyan beugte sich vor. »Ganz klar, Doktor.«
Karipuri gab sich alle Mühe, klar zu sprechen, er versuchte jedes Wort mit Kraft zu unterlegen.
»Dr. Haller hat Bettina Berndorf nie angerührt. Ich habe es getan. Es war die einzige Möglichkeit, ihn aus Nongkai zu entfernen, ohne einen Bruderkrieg unter den Leprösen zu entfachen. Er mußte von seinen eigenen Kranken weggejagt werden. Haben Sie es klar gehört, Oberst?«
»Ganz klar. Und alle hier auch.« Donyans Hände zitterten, als er die Zigarette anzündete. »Wer hat diesen mistigen Gedanken gehabt?«
»Taikky.«
»Natürlich! Und Sie haben für diesen impotenten Fettkloß die Arbeit getan.«
»Er hatte mich völlig in der Hand.« Karipuri wandte den Kopf zurück zu Dr. Haller. Dr. Kalewa hatte seine Narkoseampullen gefunden und zog eine große Spritze auf. Als er vom linken Arm die Kochsalzflasche löste und die Nadel in die Kanüle einführte, die in Karipuris Vene steckte, war sein junges Gesicht ausdruckslos.
»Zufrieden, Dr. Haller?«
»Ja.«
»Dann lassen Sie mich sterben.«
»Nein.«
»So groß ist Ihre Rache?«
»Reden Sie keinen Quatsch, Karipuri. Das Kapitel Bettina ist damit abgeschlossen. Jetzt denke ich nur noch als Arzt.«
»Der Engel von Nongkai!« Karipuri verzog das Gesicht. »Sie geben wohl nie auf, Haller?«
»Nicht, solange ich noch ruhige Hände habe.«
Haller streckte die Hand zur Seite. Wie im OP reichte ihm Siri das erste Instrument. »Bereiten Sie sich darauf vor, in acht Wochen zwischen Krücken gehen zu lernen.«
»Sie sturer Hund!« Karipuris Stimme wurde schwächer. »Sie können es nicht lassen, den lieben Gott zu spielen.«
»Narkose!« Dr. Haller nickte Dr. Kalewa zu. Der junge Arzt drückte den Kolben der Spritze herunter, die wasserhelle Flüssigkeit glitt in die Blutbahn. Dr. Karipuris Körper entspannte sich, die Muskelkontraktionen lösten sich, das schmale, aristokratische Gesicht wurde merkwürdig friedlich.
Dr. Haller löste den Knebel und setzte sofort die Klemme. Dann überlegte er kurz, entschloß sich, zwei Handbreiten über dem Knie zu amputieren, und streckte die Hand zur Seite: Skalpell zur Umschneidung! Aber Siri reichte das Instrument nicht an, seine Hand blieb leer. Ungeduldig schnalzte er mit den Fingern. Dann drehte er sich um.
Siri hockte neben den Instrumenten und hatte die Hände gefaltet. Pala zog gerade die Kanüle der zweiten Blutersatzflasche aus Karipuris Vene. Dr. Kalewa warf die Narkosespritze in den Rucksack.
Dr. Haller wandte sich wieder Karipuri zu. Im grellen Licht der Handscheinwerfer sah es aus, als lächle er. Unter seiner Haut breitete sich die fahle Farbe der Ewigkeit aus. Der Brustkorb hob und senkte sich nicht mehr.
»Was haben Sie injiziert?« schrie Haller. Er sprang auf, riß Dr. Kalewa an den Schultern herum und schüttelte den langen, jungen Arzt, als wolle er ihm den Kopf abschleudern. »Was haben Sie ihm da gegeben?«
»Morphin.« Dr. Kalewa stolperte, fiel gegen einen der Soldaten und hielt sich an ihm fest. »Genug Morphin.«
»Das ist Mord!« brüllte Haller. »Donyan! Sie haben es gehört und gesehen! Das ist Mord!«
»Ich gehöre zu der Kategorie der heiligen Affen.« Oberst Donyan stützte sich von dem toten Tiger ab und stand auf. »Ich habe heute meinen Meditationstag. Ich habe nichts gehört, nichts gesehen und kann deshalb auch nichts sagen.«
Dr. Haller stieg über den toten Karipuri hinweg und packte Pala an den Aufschlägen seines durchnäßten Kittels.
»Und du?«
»Er ist schöner gestorben, als er es verdient hat, Herr.«
»Siri …«
»Er wollte sterben, Chandra.«
»Seid ihr denn alle verrückt geworden?« schrie Haller. »Ist euch ein Menschenleben überhaupt nichts wert?«
»War das noch ein Mensch?« fragte Donyan in die plötzliche Stille hinein.
»Ja! Verdammt ja! O Himmel, ihr kotzt mich alle an!«
Er wandte sich ab, ging hinunter zum Fluß und lehnte sich an den Stamm einer mächtigen, weit in die strudelnden Wasser hineinhängenden Mangrove.
Der regenverhangene Himmel war an einigen Stellen aufgerissen, der Widerschein eines versteckten bleichen Mondes lag auf den gelblichen Fluten. Von weitem hörte man rufende Stimmen; das Eingeborenenboot hatte es geschafft, die Militärkontrolle zu durchbrechen, und trieb nun auf dem Nongnong auf ihn zu. Man ließ Dr. Haller eine ganze
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