Engel der Vergessenen
sie.
»Nein, Betty.«
Haller kam zurück an ihr Bett und setzte sich wieder auf die Kante. Die Henker können warten, dachte er. Auf eine halbe Stunde kommt es jetzt nicht mehr an.
»Was willst du mir erzählen, Betty?« fragte er.
Er beugte sich über sie, küßte sie und streichelte ihr Gesicht, das von innen heraus zu leuchten schien.
»Ich habe dich belogen«, sagte sie.
»Ei, ei, du böses Mädchen.«
»Verfall nicht wieder in diese blöde Sprache«, sagte sie ernst.
»Ich werde mich bemühen. Wieso hast du mich belogen?«
»Auf der ganzen Linie. Ich habe nie gedacht: Welch ein widerlicher Kerl! Du warst im OP, als ich dich zum erstenmal sah, weißt du das noch? Ich kam herein, und du hast mich empfangen wie ein Schulmädchen, das durch eine Türritze ins Lehrerzimmer spioniert. Und ich habe zurückgeblafft wie ein wütender Köter. Stimmt es?«
»Ja. Ich hatte Spaß daran.«
»Und ich habe die Tür zugeworfen. Aber was dann draußen geschah, hast du nicht gesehen. Ich lehnte an der Wand und war wie betäubt. Nicht aus Wut über dich – es war etwas ganz anderes. Es war die Erkenntnis, daß ich plötzlich verändert war: Von diesem Augenblick an liebte ich dich.«
Er streichelte wieder ihr Gesicht, das jetzt so kindlich war, so glücklich, nichtsahnend von der Wirklichkeit, die draußen vor der Tür wartete.
»Ich glaube, Betty, ich liebe dich«, sagte er.
»Das ist eine barmherzige Lüge. Du liebst Siri. Warum lügst du?«
»Es ist jetzt kein Platz mehr für Lügen, Betty.« Haller stand auf. »Siri gehört zu mir, wie meine Hände zu mir gehören, meine Füße, meine Lunge, meine Ohren. Sie ist ein Teil von mir. Bei dir ist es etwas anderes, Betty. Als Quartaner hatte ich mich mal in eine Primanerin verliebt. Das war so, als liebe ein Dackel einen stolzen langhaarigen Windhund. Ich versteckte mich hinter Straßenecken und folgte ihr heimlich, ich fraß sie mit den Augen auf. Ich wußte, daß das alles war, was ich mir erlauben konnte. Und trotzdem war ich glücklich.«
Haller ging zur Tür. Er riß sie auf. Bettina schleuderte die Decke von sich. »Wo willst du hin?« rief sie und sprang auf.
»Jetzt bringe ich Ordnung in mein Leben!«
»Sie werden dich totschlagen wie einen wilden Hund! Karipuri hat es gesagt.«
»Aber der Hund kann beißen!« Haller atmete tief durch. »Und wie er um sich beißen kann! Grüß mir Hamburg, Betty.«
Er warf die Tür hinter sich zu und schloß ab. Bettina trommelte mit den Fäusten, begann zu schreien, warf sich mit dem Körper gegen die Tür.
»Mach auf!« schrie sie. »Mach auf! Laß mich bei dir sein!«
Sie rannte zurück. Er hörte, wie sie ihr Bett demontierte, dann stürzte sie von neuem gegen die Tür und benutzte ein Seitenteil des Bettes als Rammbock. Die Schläge hallten durch das leere Haus.
Jetzt wird es Zeit, dachte Haller. Bevor sie die Tür aufgebrochen hat, muß alles vorüber sein.
Er griff in die Hosentasche, holte seinen Revolver heraus, kontrollierte die Trommel und ging dann schnell nach vorn zum Eingang. Dort standen nur wenige Männer. Taikky, Karipuri und fünf von den neuen Ärzten. Erstaunt blieb Dr. Haller stehen.
»Nanu?« sagte er. »Ein Standesgericht oder ein Konsilium? Beides, meine Herren, ist saublöd! Ich nehme nicht an, daß Ihre Kollegialität so weit geht, sich an mir als Henker zu betätigen. Taikky, wollen Sie untersuchen lassen, ob ich gesund genug bin, um zu sterben? Ich bin's.«
»Das Volk ist empört.« Taikkys Stimme war freundlich, als biete er Haller einen besonders guten Whisky an. »Wir haben versucht, ihm die Notwendigkeit eines ordentlichen Gerichtsverfahrens vor dem Gouverneur in Lashio oder sogar in Rangun zu erklären. Aber besänftigen Sie mal einen fanatischen Pöbel! Wo Leidenschaften frei werden, tanzt auch der Verstand mit. Nur unter der Voraussetzung, hier sofort ein Gerichtsverfahren durchzuführen, konnten wir verhindern, daß man Sie lyncht. Wir leben in einer Welt der Ordnung. Ich bin immer dafür eingetreten.«
»Wenn Sie weitersprechen, Taikky …« Er streckte die Hand vor. An seinem Zeigefinger hing der Revolver. »Ich weiß, woran Sie jetzt denken: Es wäre besser, er setzt ihn sich selbst an die Stirn. Das wäre für Sie ein Geschenk. Nein! Gehen wir hinaus und machen wir das alles vor dem Volk ab! Stellen Sie die Leute vor mir auf, die mich gesehen haben wollen!«
»Sie waren nie in Lashio. Sie wollten dorthin. Aber Sie sind nicht eingetroffen. Sie haben sich versteckt gehalten,
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