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Engel der Vergessenen

Engel der Vergessenen

Titel: Engel der Vergessenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Köpfe: »Gott steh dir bei, Herr! Gott gehe an deiner Seite, Doktor!« Der Leiter des Kirchenchors hob die Hand und gab den Einsatz. In das Gedröhn der ›Glocke von Nongkai‹ fielen die Stimmen der Sänger. Haller atmete tief durch. Dann riß er die Arme hoch, legte sie schützend über seinen Kopf, drückte die Unterarme gegen sein Gesicht und begann zu rennen.
    Die Bambusstöcke prasselten auf ihn herunter wie ein Regen, der Steine vom Himmel schleudert. Die ersten Meter spürte er keinerlei Schmerzen. Es gab nur einen Gedanken: Schneller – schneller – was sind einhundertzwanzig Meter – lächerlich! In meiner besten Zeit bin ich hundert Meter in 13,4 gelaufen. Sagen wir 15 Sekunden, dann müßte alles vorbei sein – 15 miese Sekunden, und du kannst weiterleben – 15 Sekunden für Taikkys größten Fehler, denn ich werde wiederkommen, das schwöre ich euch, ich werde um mein Nongkai kämpfen. Schlagt nur, schlagt – mit jedem Hieb büße ich eine Stunde meines verdammten, verschleuderten Lebens ab. Das reinigt, Leute, das putzt mich sauber! Ihr klopft den ganzen Dreck von mir ab, ganze Schichten von Lebensverachtung, Gleichgültigkeit, Gemeinheit, Selbstzerstörung, billigem Selbstmitleid. Wenn ich am Tor bin, habt ihr den alten Dr. Haller wieder hervorgeprügelt …
    Er taumelte, schwankte Schritt für Schritt vorwärts, kämpfte sich, nach vorn gekrümmt, unter den sausenden, wirbelnden Bambusstöcken hindurch, und jetzt spürte er Schmerz, bestialische Schmerzen. Sein ganzer Körper brannte, als reiße man ihn auf und bestreue ihn mit Pfeffer. Er drückte die Unterarme noch näher an sein Gesicht, spähte beim Laufen durch den Spalt zwischen seinen Armen, starrte in die verzerrten Gesichter, in die glühenden Augen. Sie prügeln mich mit der gleichen Leidenschaft zu Tode, wie sie vor vier Tagen noch meine Hände küßten und »hilf mir, Doktor!« sagten. Was kann aus Menschen werden …
    Er warf sich nach vorn, er sah das Tor vor sich, aber es kam nicht näher, es schien ihm davonzulaufen.
    Sein Kopf schwoll an wie ein sich ständig füllender Wassersack, Schultern und Rücken waren aufgesprungen, das Blut lief ihm unter dem Hemd den Körper hinunter.
    Auf den letzten Metern hatte Bano die kräftigsten Männer postiert. Die Schläge dröhnten auf Haller herunter, und sie schlugen nicht nur von oben, sondern jetzt auch von allen Seiten – gegen die Brust, die Leber, den Magen, die Nieren, die Oberschenkel, die Beine – eine zwanzig Meter lange rotierende Bürste aus Bambusstöcken erfaßte ihn.
    »Sieh an, er schafft es«, sagte Taikky und ließ eine Packung Zigaretten kreisen. »Aber es wird nicht viel von ihm übrigbleiben. Meine Herren, darf ich Sie zu einem kleinen Imbiß in mein Haus bitten?«
    Der letzte Meter …
    Dr. Haller warf sich durch die Türöffnung. Noch ein Schlag, dann stand er wie in einem luftleeren Raum, ließ die Arme von seinem Gesicht fallen, breitete sie aus und taumelte weiter, der grünen Wand des Dschungels entgegen. Hinter ihm schloß sich knarrend das Tor. Noch immer hörte er den Kirchenchor singen und den dumpfen, dröhnenden Ton des Riesenkürbis. Dann starb auch das, ganz schnell, als würde er von einem Atemzug zum anderen blind, taub und gefühllos. Er schwankte weiter, fiel am Ufer des Nongnong in den Sumpfboden und tauchte das Gesicht in das grünschillernde, nach Fäulnis stinkende Wasser.
    Kühle. Köstliche Kühle. Wasser! Göttliches Wasser!
    Er streckte sich, wühlte sich in den schimmelnden Schlamm und gab sich ganz dem unbeschreiblichen Gefühl hin, trotz allem, was geschehen war, zu leben.
    Irgendwann war die Erschöpfung in tiefe Bewußtlosigkeit übergegangen. Er hatte es nicht gemerkt, aber als er jetzt aufwachte, spürte er, daß er in der Luft hing, daß sein Körper merkwürdig leicht war, als schwebe er über der Erde.
    Dieser Zustand versetzte ihn in solch seliges Erstaunen, daß er nicht wagte, die Augen aufzuschlagen. Nein, nichts sehen, dachte er! Diese Schwerelosigkeit ist phänomenal! Vielleicht kann ich auch gar nichts sehen, wenn ich die Lider öffne … Man schwebt, wenn man tot ist … das ist sicher. Und man spürt dieses Schweben, das ist nun auch klar. Und man denkt als Toter … das ist jetzt bewiesen. Die Kälte dringt bis in die Knochen. Weltraumkälte! Also stimmt es, daß die Toten zwischen Erde und Unendlichkeit ihre neue Heimat haben. Körperlos, entmaterialisiert, eben das, was man Seele nennt … verrückt, ich habe es nie

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