Engel der Vergessenen
Karipuris, diese armen, verfaulenden Menschen, zu denen man sagen konnte: Erst, wenn es den deutschen Arzt nicht mehr in Nongkai gibt, wirst du geheilt – diese Menschen wußten es nicht anders und glaubten dem, der stärker war.
Dr. Haller riß Karipuris Kopf an den Haaren hoch.
»Er war es, der die Schwester überfallen hat!« schrie er. »Sie hat ihn erkannt, sie hat es mir gesagt! Ihr wißt doch alle, daß ich nicht in Nongkai war! Hier habt ihr das Schwein! Warum glaubt ihr mir denn nicht?«
Er stieß Karipuri bis zum Geländer. Wie ein Sack hing der Inder über dem Gitter, seine Arme baumelten schlaff in der Luft. Es war klar, daß er nachhalf, daß er mit wahrer Wonne den völlig Zerschlagenen spielte. Seht, Freunde, hieß diese Demonstration: So geht dieser Haller mit eurem Chefarzt um. Das ist sein wahres Gesicht!
»Wo sind die Männer, die mich gesehen haben wollen?« brüllte Haller. Bano Indin winkte.
Neun finster blickende Birmesen traten vor, alles Neuzugänge, die Haller nie gesehen hatte. Sie stellten sich an den Fuß der Treppe und hoben die Arme.
»Neun?« schrie Haller. »Vorhin waren es noch sieben!«
»Es haben sich noch zwei mehr erinnert!« sagte Bano laut. »Und wenn man weiter fragt, werden es elf oder fünfzehn sein. Oder dreißig! Sieh dich vor, Doktor! Ich kann sogar bis hundert zählen.«
Noch einmal blickte Haller über die geballte Masse Haß, dann wandte er sich ab, ließ Karipuri über dem Geländer hängen und ging zurück zur Tür. Dort warteten Taikky und die anderen Ärzte. Taikky rauchte gemütlich, die anderen schienen nervös und unsicher zu sein.
»Und wie haben Sie über mich entschieden?« fragte Haller. Schweratmend wischte er sich den Schweiß vom Gesicht.
»Wir sind besser als unser Ruf. Sie erwarten, daß wir Sie aufknüpfen lassen, auf Bambuspfähle spießen, von zurückgebogenen Palmen auseinanderreißen lassen oder Sie in den Dschungelfluß zu den Krokodilen werfen. Aber das ist nichts als amerikanische Filmphantasie. Sie sind ein toter Mann, auch wenn Sie weiterleben. Genügt das nicht? Sie sind so am Ende, Doktor Haller, wie ein Mann nur am Ende sein kann. Sie haben keine Stimme mehr, kein Recht, keinen Boden, keinen Himmel. Sie sind ein absolutes Nichts! Sie können gehen. Keiner hält Sie mehr. Warum sollten wir Sie töten? Dazu sind Sie zu unwichtig! Verdammt – gehen Sie endlich!«
Dr. Haller wandte sich zurück zur Veranda. Die Menschenmauer hatte sich geteilt. Sie bildete wieder eine Gasse, eine lebende Straße bis zu dem Tor in der Palisade. Das Tor stand weit offen. Er sah das Stück Straße und die Wand des Dschungels. In Doppelreihen warteten die Leprösen, jeder von ihnen hielt einen biegsamen Bambusstock in der Hand.
Plötzlich war es still, nur das hundertfache Atmen lag in der Luft, ein ständiges rhythmisches Keuchen.
Dr. Haller starrte die enge Gasse hinunter bis zum Tor. Einhundertzwanzig Meter bis zum Leben. Einhundertzwanzig Meter durch einen Wirbel peitschender Stöcke. Sie würden brutal auf ihn einschlagen, denn man hatte ihnen gesagt: Ihr werdet alle weiterleben, wenn nur erst dieser ›Engel‹ aus Nongkai hinausgeprügelt ist. Jeder von euch wird ein Stück Fleisch bekommen und eine große Schüssel Reis. Ein Fest werden wir feiern, ihr könnt den Reisschnaps aus den hohlen Händen trinken. Taikky, der große Taikky, schenkt euch ein Fest, wie es Nongkai noch nie gesehen hat. Das Fest der Wiedergeburt! Eurer Wiedergeburt, meine Freunde!
»Ich weiß, Sie können schnell rennen«, sagte Taikky freundlich. »Ich habe erlebt, wie schnell Sie sein können. Dort ist der Dschungel. Ist das keine Chance?«
Dr. Haller nickte schwer. »Wenn ich es durchhalte, Taikky, komme ich auch wieder. Das schwöre ich Ihnen! Haben Sie davor keine Angst?«
»Sie sind nicht mehr der Mann, vor dem ich Angst haben könnte. Und Sie kommen auch nicht wieder. Ein Nichts hat keine Funktionen. Übrigens – im Dschungel versagt mein Schutz. Dort sind Sie allein.«
Das war deutlich. Langsam wandte sich Haller ab und ging die Treppe hinunter. In die Menschengasse kam Bewegung. Die Bambusstöcke schnellten hoch. Ein Wald aus vielen kleinen Ruten wuchs über die Köpfe. Auf dem Dach der Kirche setzte der Küster seinen Riesenkürbis an den Mund. Dröhnend, schaurig mit seinem auf- und abschwellenden Ton, schwebte der Klang über das Dorf. Minbya fiel in die Knie und begann zu beten. Der Prediger Manoron riß segnend beide Arme hoch und schrie über die
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