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Engel der Vergessenen

Engel der Vergessenen

Titel: Engel der Vergessenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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borkige Rinde.
    »Du hast keine Schmerzen mehr?« fragte sie.
    Er schüttelte mühsam den Kopf. »Aber ich erstarre zu Eis, Siri.«
    »Nur ein paar Minuten. Dann spürst du nichts mehr, Chandra.«
    Sie schien ihn jetzt völlig mit dem Brei bedeckt zu haben. Die Äste begannen zu schwanken, als sie von Haller wegrutschte. Dann hörte er Knacken und Knirschen und das laute Rascheln von Blättern.
    »Siri!« rief er. »Siri! Gehst du weg?«
    »Ich wasche mir nur die Hände am Fluß und komme wieder, Chandra.«
    Er hörte, wie sie sich entfernte, lag ganz still und sah hinauf in das Gewölbe aus dicken Blättern, verfilzten Zweigen, Lianen, Blumenranken und anderen Klettergewächsen, die alle hinauf zum Licht strebten, weg aus dem faulenden Halbdunkel unten an der Erde, wo fingerdicke, weißliche Maden sich von der Verwesung ernährten, und Blutegel, prall wie Daumen, auf ihre Opfer warteten.
    Hier, auf halber Höhe, war die Luft reiner, würziger, gefüllt vom Duft der handgroßen Blüten, die noch weiter oben, dort, wo die Sonne durch das Blätterdach brach, an dicken Stengeln hingen. Ganz oben, unter der Sonne, dreißig, vierzig Meter hoch, mußte das Leben triumphieren, unberührt, kraftstrotzend, genährt von Sonne, Wind und dem täglichen tropischen Regen.
    Haller richtete sich vorsichtig auf. Er biß sich auf die Lippen. Siris kühlender Brei wirkte noch nicht völlig, die Schmerzen bohrten noch in seinem Körper. Aber es gelang ihm, sich so weit hochzustemmen, daß er sich an einem Ast festhalten und seine Umgebung betrachten konnte.
    Die dicken Äste des Baumes bildeten eine Art Plattform, einen Boden, wie aus Fachwerk geflochten, zwanzig Meter über der Erde. Nur durch einige Ritzen konnte man nach unten blicken. Dort schimmerte Wasser, und alles verschwamm in einer grünlichen Dämmerung. Es war wirklich ein sicheres Versteck.
    Hallers Anzug hing an einem Ast. Ein zerfetztes Stoffbündel, blutbeschmiert, grünfleckig vom Dschungelboden. Daneben hingen seine Stiefel, sein Hemd, seine Unterhose. An einem anderen Ast pendelten drei Leinensäcke, in denen Haller Verpflegung vermutete. Fünf orangegelbe Plastikkanister standen in einer Astgabelung: Wasser.
    Das hat sie alles herangeschafft, dachte er, rutschte nach rückwärts und lehnte sich an den Stamm, der breit war wie eine gewölbte Wand. Zehn Stunden hat sie gebraucht, mich hier hinaufzuziehen. Und dann hatte sie noch die Kraft, hin und her zu rennen und durch Manorons unterirdischen Gang die Säcke und die Kanister hierher zu schaffen.
    Er saß, bis er sie zurückkommen hörte. Als ihr Kopf auftauchte aus dem Blättergewirr, beugte er sich nach vorn und half ihr, sich die letzten Zentimeter hochzuziehen. Dabei wunderte er sich, daß ihm diese Anstrengung keine Schmerzen mehr bereitete.
    »Was ist in Nongkai geschehen?« fragte er, als sie neben ihm saß. Sie trug grüne kurze Shorts, ein grünes Hemd mit aufgesetzten Taschen und hatte die langen Haare hochgebunden. »Warst du heute schon im Dorf?«
    »Ja, Chandra. Es ist etwas mit Adripur. Sie lassen ihn nicht mehr aus den Augen, bewachen ihn auf Schritt und Tritt.«
    »Wenn Adripur noch in Nongkai ist, haben sie auch Bettina noch nicht weggebracht.«
    »Man will sie morgen wegbringen, Chandra.« Siri kontrollierte den Brei, der überall zu trocknen begann und wie eine rote Gipsschicht den Körper Hallers versteifte. »Willst du mit ihr fahren?«
    »Nein.«
    »Du könntest es auch gar nicht. Ich lasse dich nicht gehen, Chandra.« Sie setzte sich zurecht, stemmte die Beine gegen einen Ast und zog Hallers Kopf auf ihren Schoß. Eine köstliche Müdigkeit breitete sich in ihm aus. »Ich gehe nicht fort«, sagte er schläfrig. »Sie haben alle Kraft aus mir herausgeschlagen.«
    »Die Kraft kommt wieder, Chandra. Und dann?«
    »Ich werde im Dschungel bleiben und mit den Tigern um Nongkai herumschleichen. So lange werde ich auf der Lauer liegen, bis ich Karipuri in die Hände bekomme. Er hat Bettina auf dem Gewissen.«
    »Ich weiß es. Viele wissen es. Aber keiner wagt es auszusprechen. Bano Indin hat die Macht in Nongkai übernommen. Sie haben Vater aus dem Bürgermeisterhaus herausgeholt und so lange geprügelt, bis er Bano die Füße geküßt hat. Als die anderen das sahen, verließ sie der Mut. Sie sind in der Überzahl, die Neuen. Sie haben die Ärzte auf ihrer Seite, die Schwestern, die Pfleger. Alle Medikamente liegen bei ihnen. Nur der wird noch behandelt, der Karipuri gehorcht und dich verflucht. Sie

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