Engel des Todes
Anna-Luna ging an den dreien vorbei und trat in den Teleskoplift. »In zwei Stunden starte ich. Wenn Sie noch sachlich begründete Fragen an mich haben sollten, erreichen Sie mich bis dahin in meinem Kommandostand.«
»Besten Dank, Verehrteste«, sagte Kreusen. »Ich werde mich selbstverständlich beim Oberkommando über Ihren Ermessensspielraum in solchen Fällen erkundigen. Ihnen eine gute Reise …«
*
Zwei Stunden lang sendete das Bordhirn der JERUSALEM den Notruf Rot-Rot aus – unlösbare technische Probleme und unmittelbare Lebensgefahr –, bevor das Parafunk-Relais sich selbst abschaltete. Nichts ging mehr.
Als nächstes meldete die Schnittstelle im Maschinenleitstand den Infarkt der Q-Plasma-Maschinen. Yaku versuchte vergeblich das KRV-Triebwerk hochzufahren. Die Innenbeleuchtung flackerte, das Hauptvisuquantenfeld und sämtliche Arbeitsfelder lieferten allenfalls noch verzerrte Darstellungen von Werten und Bildern. Zu stark waren die Magnetfelder, durch die der Frachter sich bewegte, zu intensiv die Radiostrahlung und zu dicht die Ionenorkane, die gegen den Rumpf des Schiffes peitschten. Von den dichten Teilchenfeldern, die es durchdrangen, ganz zu schweigen.
Gegen die Balustrade der Galerie gelehnt hockte Plutejo am Treppenabgang. Er war schweißnaß und zitterte am ganzen Körper. Über ihm auf dem Geländer hockte der Rabe und äugte leise krächzend auf ihn hinab. Moses schien zu spüren, wie elend der Junge dran war. Alle paar Minuten flößte Venus ihrem Bruder aus Yakus Flasche ein wenig Whisky ein. Danach ging es ihm immer eine Zeitlang besser.
»Entweder hat jemand unseren Notruf aufgefangen, oder wir sind erledigt.« Yaku nahm Venus die Flasche aus der Hand und schielte auf den Whiskypegel. Sie war nur noch zu zwei Dritteln gefüllt, und der rasche Schwund seines letzten guten Tropfens tat ihm in der Seele weh. Er nahm einen kräftigen Schluck. Der Rabe fing sofort an zu zetern. »Ich bin amtlich sowieso schon tot«, sagte Yaku. »Aber ihr, verdammt noch mal, ihr seid noch so jung!«
Venus senkte den Kopf und preßte die Fäuste gegen die Schläfen. Wie ein Schleier verhüllten ihre langen schwarzen Locken ihr Gesicht.
Plutejo streckte den Arm zu Yaku herauf. »Quatsch nicht, Mann … gib schon her …«
Widerwillig überließ Yaku ihm die Flasche. Der Junge sah aus wie der fleischgewordene Tod: graue Lippen, schmutzigblaue Haut, große, flackernde Augen und schaumiger Speichel in den Mundwinkeln. Er tat ihm leid.
Yaku wandte sich ab. Die Hände in den Jackentaschen vergraben und mit finsterer Miene schlurfte er zum Kommandostand. Dort schnappte er sich den Aktenkoffer mit seinen Habseligkeiten und ging zurück zu dem Geschwisterpaar. Er setzte sich zu ihnen auf den Boden, öffnete den Koffer und entnahm ihm einen in Fischleder gewickelten Buchblock. »Ich lese euch etwas vor.« Behutsam wickelte er das alte Stück aus dem weichen Leder. Rücken und Stege waren zerfasert, die Deckseiten zerrissen.
Venus hob den Kopf. »Was ist das für ein Buch?«
»Ein gutes.« Irgendwo in der Mitte schlug Yaku es auf und begann zu lesen. »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln …« Die Geschwister runzelten die Stirnen, blickten verständnislos auf den Weißhaarigen und sein zerschlissenes Buch. »… er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele …«
»Wer, bei allen Gespenstern Gennas?« unterbrach Venus.
»Keine Ahnung«, sagte Yaku müde. »Irgendein Gott, schätze ich.«
»Was ist ein Gott, verdammt noch mal?« Plutejo sprach mit schwerer Zunge. »Und was beim Drecks-Eis von Genna ist eine grüne Aue?«
»Eine Wiese«, antwortete Yakubar. »Gras, Blumen und so.«
»Kennt er nicht«, flüsterte Venus. »Ich auch nicht.«
Yaku sah die Frau und den zitternden Jungen an. Mitleid überwältigte ihn. Er schluckte die Tränen hinunter. »Ich lese weiter, hört einfach zu.« Und er las weiter. »Und ob ich schon wanderte im finstren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir …« Der alte Mann von Doxa IV las weiter und immer weiter. Plutejo zitterte und trank den guten Whisky, Venus lehnte den Kopf gegen die Balustrade und schloß die Augen. Trotz Yakus heiserer Stimme breitete sich eine merkwürdige Stille in der Frachterzentrale aus.
Bis sich das Bordhirn meldete. Seine künstliche Stimme klang so verzerrt, daß sie nur Wortfetzen verstehen konnten. »Schiffe …!« Yaku legte das Buch weg, sprang auf und
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