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Engel des Todes

Engel des Todes

Titel: Engel des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marshall
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der Wahrheit entsprach, oder dass der Drang, jede Information in ein vorher festgelegtes Schema zu pressen, ein Zeichen von Wahn war. Wenn er tatsächlich alles glaubte, was er mir gerade erzählt hatte, dann hätte er den Verstand verloren.
    Wer wollte aber solche Einwände gegenüber einem bewaffneten Mann äußern, noch dazu, wenn man an einen Stuhl gefesselt war?
    »Hast du das alles von Dravecky?«
    »Teile der Geschichte. Er bestätigte auch, dass einige aus dem ›Stamm‹ – er benutzte dieses Wort – der Auffassung waren, dass der Upright Man zu einer Belastung geworden sei. Außerdem sprach er von dessen Vorhaben hier in der Gegend. Angeblich geht es ihm um ein Opfer, das schon seit langer Zeit nicht mehr gebracht worden ist.«
    »Glaubt Paul, dass die Straw Men ihn wieder aufnehmen, wenn er das schafft?«
    »Das bezweifle ich. Er scheint vielmehr der Meinung zu sein, dass die Straw Men verweichlichen.«
    »Wo ist Dravecky jetzt?«
    »Auf dem Grund des Columbia River.«
    »Na, klasse. Du bist wirklich spitze. Sag mir eines, John: Hast du die Frauen umgebracht?«
    »Nein.«
    Die Antwort kam ebenso rasch wie schlicht. Ich wusste immer noch nicht, was ich davon halten sollte. »Was will Paul dann hier in den Bergen?«
    John schüttelte den Kopf. »Du glaubst nicht, was ich dir erklärt habe«, sagte er. »Mir ist das gleich.« Er stand auf und zog etwas aus seiner Hosentasche. Es war ein Stück Stoff, ungefähr einen halben Meter lang.
    »Tu das nicht …«
    Doch im Handumdrehen hatte er mich damit geknebelt. Dann kauerte sich vor mich und sah mir fest in die Augen. Während seiner Erzählung war es, von mir unbemerkt, hinter den Vorhängen langsam heller geworden. Der Morgen dämmerte. Im Zwielicht unterschied ich nun das stählerne Blau seiner Iris und das Dunkel der Pupillen. Tiefer konnte ich nicht blicken.
    »Komm mir nicht in die Quere, Ward«, warnte er mich. »Ihn tot zu sehen, ist mir wichtiger als dein Leben.«
    Er überprüfte noch einmal die Knoten, zog sie fest und lachte. »Das Stärkste kennst du noch gar nicht. Vor vierzig Jahren glaubten sie, das Land könnte durch den liberalen Kurs ruiniert werden. Da half nur das höchste Opfer: das Königsopfer. Sechsundzwanzigster November 1963 .«
    Ich schaute ihn an. Er blinzelte mir zu. »Sie haben JFK getötet.«
    Dann ging er zur Tür, trat hinaus ins Dunkel und verschwand.

26
    D ie Nacht über saß der Mann mit den Waffen kerzengerade auf einem Stuhl vor der Tür. Der andere Mann, Kozelek, versuchte zwei Mal, mit ihm ins Gespräch zu kommen, doch ohne Erfolg. Danach schien er es aufzugeben. Er saß zusammengesackt auf einem anderen Stuhl und starrte eine ganze Weile ins Leere. Dann taperte er in der Küche herum, bis er eine Flasche Wein fand. Er trank sie in genau zwanzig Minuten leer und schlief ein. Offenbar hatte er keine schönen Träume. Zweimal sagte er im Schlaf einen Frauennamen.
    Patrice hatte sich seitlich auf die Couch gelegt. Da ihr die Hände im Rücken gebunden waren, blieb ihr nichts anderes übrig. Eine Zeitlang hatte sie die Augen offen gehalten. Als sie merkte, dass sie dadurch das Unheil nicht abwenden konnte, schloss sie die Augen wieder. Schlafen konnte sie aber nicht, der Schlaf mied sie hartnäckig.
    Bei Morgengrauen brachen sie auf. Der Mann mit den Waffen – Henrickson nannte er sich – befahl ihr, an der Spitze zu gehen. Kozelek lief schwankend hinter ihr. Immer wieder kam er ins Stolpern, vielleicht weil er verkatert war, vielleicht auch wegen eines verletzten Knöchels, hauptsächlich aber wohl, weil er aufgegeben hatte.
    Henrickson bildete den Schluss. Hin und wieder schaute Patrice in seine Richtung, um sich zu vergewissern, wo er war. Obwohl es in der Nacht geschneit hatte und nach Regen und Schneeregen wieder eine Schneedecke lag, verstand er es, sich fast geräuschlos fortzubewegen.
    Sie führte die Männer am nördlichen Ufer des Sees entlang. Einen anderen Weg einzuschlagen und sie nicht dorthin zu bringen, wohin Henrickson wollte, schien aussichtslos. Es war viel weiter, als Henrickson dachte. Er würde jedenfalls nicht bekommen, was er erhoffte; das verbarg sich viel tiefer im Wald, und dorthin müsste er allein gehen – und womöglich hatte es noch weitere Vorteile.
    Auf der Höhe der zweiten Blockhütte schaute sie kurz auf und sah ihr Spiegelbild im staubigen Fenster. Sie lächelte für den Fall, dass Bills Geist immer noch dort wohnte, und falls sie nicht zurückkommen sollte.
     
    »Ich hoffe

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