Engel des Todes
Fremden keine Rede mehr. Was taten sie dort draußen in der Wildnis, an einem so abgelegenen Ort, wo die ursprüngliche Siedlungsgemeinschaft reihenweise starb und – merkwürdig genug – in Kannibalismus verfiel? Wer waren die Fremden?«
»Straw Men, deiner Meinung nach.«
»Ja. Sie waren vor uns da. Sie sind immer schon da gewesen. Die Leute wussten das, hin und wieder kamen sie mit ihnen in Kontakt. Doch das passte nicht zu dem Gründungsmythos dieses Landes, aus dem Amerika geworden ist, und so geriet das Wissen um sie in Vergessenheit.«
»Und sie haben einfach aufgegeben?«
»Selbstverständlich nicht. Doch gegen die Zuwanderung Millionen geistig gesunder Menschen konnten sich die Straw Men nicht behaupten, denn sie sind immer nur wenige gewesen. Sie traten in den Schatten und gingen im Stillen ihren Geschäften nach. Ich glaube, heute stehen sie in Verbindung zu den Neokonservativen, aber beweisen kann ich das nicht. Sie verdienen Geld und tun das, was sie gern tun, nämlich das, was wir eigentlich nicht mehr tun sollten. Hin und wieder sorgen sie für ein Massaker, nur um nicht aus der Übung zu kommen und den Göttern zu huldigen. Das ist ihr Weg.«
»Aber Töten ist doch kein Glaubenssystem.«
»Doch, das ist es, Ward. Genau das ist es. Wir alle taten das früher. Heutzutage töten wir nur aus Hass oder Gier oder zur Bestrafung, aber gut hunderttausend Jahre lang herrschte im Menschengeschlecht der Glaube, dass es eine Form des Tötens gebe, die mit dem Leben und der Hoffnung zu tun hat.«
»Was sollte das sein?«
»Das Opfer. Wir opferten Tiere und wir opferten unsere Artgenossen. Opfern heißt für magische Zwecke töten. Der Serienmord ist die fehlgeleitete Form dieses Strebens. Die Straw Men verwandeln junge Mädchen und Jungen in Symbole für die ›Götter‹ – vollkommene, unerreichbare und grausame Wesen – und machen den Modus Operandi zur Perversion eines alten Rituals.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Jeder einzelne Schritt fügt sich in ein Ritual. Da ist die Vorbereitung: Sie suchen ein Opfer aus. Dann bringen sie es an einen geheimen Platz, wo sie es waschen, ihm zu essen und zu trinken geben und mit ihm zu sprechen versuchen. Das heißt, sie würdigen es. Es kann auch zu Sexualverkehr kommen, teils als Versuch, sich mit den Göttern zu vereinen, vor allem aber weil abartiges Sexualverhalten das einzige Mittel scheint, das stark genug ist, um im neuzeitlichen Menschen wieder seine elementaren Triebe anzufachen. Dann opfern sie die Ausgewählten oder ›bringen sie um‹, um es mit anderen Worten zu sagen. Manchmal essen sie Teile des geopferten Körpers, um sich seine Stärke anzueignen. Oft behalten sie etwas von ihnen oder von ihrer Kleidung, ähnlich wie man ein Bärenfell oder einen Wolfszahn als Trophäe aufbewahrt. Sie verwahren es an einem bestimmten Ort, um die Toten präsent zu halten. Kommt dir das nicht bekannt vor?«
»Ja«, gab ich zu, »das klingt bekannt.«
»Anschließend begraben sie die Überreste, sie geben sie sozusagen der Erde zurück, oder sie zerstreuen sie. Das Zerstreuen des dargebrachten Opfers gehörte in früheren Zeiten ebenfalls zum Ritual. Danach herrscht eine Weile Ruhe, bis der Opferzyklus erneut beginnt und die Musik der Sphären ihnen sagt, dass es Zeit für ein neues Opfer ist.«
»Aber Serienmörder sind keine Opferpriester.«
»Nein. Sie sind Geisteskranke, und deshalb wird sich der Opferzyklus plötzlich beschleunigen. Die meisten Serienmörder wissen tief in ihrem Herzen, dass sie Unrecht tun. Sie wissen, dass sie einer kranken Triebstruktur gehorchen. Sie schützen Vernunftgründe für ihr Verhalten vor, aber sie verstehen sich selbst nicht. Am Ende werden sie frenetisch und glauben ihren eigenen Gründen nicht mehr. Anders die Straw Men. Sie glauben, dass ihr Verhalten gerechtfertigt ist, ja sie halten es sogar für den wesentlichen Zug, der den Menschen überhaupt zum Menschen macht. Sie glauben, dass mit dem richtigen Menschenopfer zur richtigen Zeit alles ins Lot kommt. Das ist die ursprüngliche magische Handlung. Sie stehen zu einem uralten Glauben, der das Töten für rechtens hält.«
Er hatte aufgehört zu sprechen, aber sein Kinn blieb energisch nach vorn gerichtet, und aus dem ganzen Körper sprach der Unwille, die Welt anders zu sehen.
Ich sah ihn wortlos an. Ich wusste nicht, wie ich ihm verständlich machen sollte, dass ein Teilwissen gefährlich ist, oder dass nicht alles, was er im Internet gelesen hatte, auch
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