Engel des Todes
doch schwer, dass Sie mich nicht in die Irre führen«, sagte Henrickson.
Tom hielt an, er war froh über den Vorwand, eine Pause einzulegen. Die zweistündige Wanderung, noch dazu ständig bergauf, hatte ihn erschöpft. Am Himmel, der anfangs strahlend blau über den Bäumen stand, waren nach und nach dunkle Wolken aufgezogen, die nun wie schwere Lehmklumpen über ihnen hingen. Toms Kopf brummte, und so übel es ihm ging, er musste doch daran denken, dass er schon einmal an den Ort zurückgekehrt war, dem sie nun zustrebten. Da war sein Kopf in noch schlimmerem Zustand gewesen. Selbstverständlich hatte er es so nicht geplant. Er hatte ja nur in tiefen Schlaf fallen wollen, und an allem anderen war der viele Alkohol schuld gewesen. Auch jetzt wollte er wieder schlafen. Schlafen oder weit weg von hier sein. Sein absurder Glaube, dass er irgendwie schon zurechtkommen, dass seine Entdeckung sein verkorkstes Leben heilen würde, war ihm abhanden gekommen.
Henrickson stellte sich vor die alte Frau. »Sie sagten zu den Polizisten, dass die Stelle eine Stunde zu Fuß von der Grenze Ihres Grundstücks entfernt liege. Wenn Ihr Besitz nicht gerade die Größe eines Staatswaldes hat, scheint das weit hergeholt zu sein.«
»Ich habe gelogen«, sagte sie schlicht.
»Wie weit ist es wirklich?«
»Ziemlich weit.«
»Sie können versuchen, uns in die Irre zu führen«, fuhr Henrickson fort. »Sie mögen das für einen guten Plan halten. Aber ich bin weit besser zu Fuß als Sie beide zusammen. Ich werde auch dann noch gehen, wenn Sie beide schon längst zusammengeklappt sind. Sicher, Sie haben mich daran gehindert, die Stelle heute zu finden. Aber ich weiß, dass es irgendwo hier sein muss. Also bleibe ich und werde sie früher oder später finden. Sie sind dann vor Erschöpfung schon draufgegangen, und ich habe lediglich Zeit verloren.«
»Aber wozu?«, fragte Tom. »Wenn Sie dieses wunderbare Wesen nur töten wollen, spielt es da eine Rolle, ob Sie es heute oder erst nächste Woche tun?«
»Was glauben Sie eigentlich da draußen zu finden?«, fragte Patrice und sah ihn scharf an.
»Das wissen Sie doch«, sagte Tom.
Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nur von Bären. Tiere, die dort schon seit unvordenklichen Zeiten leben und die es verdienen, in Ruhe gelassen zu werden.«
Tom schaute zu Henrickson hinüber.
Der sagte nichts, sondern wies mit dem Kinn bergab.
Also marschierten sie weiter. Bald ging Tom neben der alten Frau. Er fing an zu reden, und sie schien ihm zuzuhören. Er erzählte ihr von seinem Gang in die Wildnis und was ihn eigentlich dazu bewogen hatte. Am Ende ertappte er sich dabei, ihr auch das zu sagen, was niemand außer ihm wusste. Er sprach stockend, aber nichts hielt ihn mehr zurück. Er erzählte ihr, wie er sich über die junge Frau auf dem Beifahrersitz seines Autos gebeugt hatte, um sie näher zu betrachten. Wie schwer sie verletzt war und doch noch um ihr Leben rang. Dann sprach er von der Buchhaltung der Firma, für die er gearbeitet hatte, von Unstimmigkeiten, die früher oder später an den Tag kommen würden. Restaurants sind teuer, Geschenke für junge Frauen ebenfalls, und Rachel hatte keinen billigen Geschmack. Wer ein Verhältnis mit einer anderen Frau unterhält, bekommt finanzielle Probleme, vor allem wenn die Ehefrau die Bankauszüge und Kreditkartenabrechnungen überprüft. Sarah hätte die zusätzlichen Ausgaben entdeckt, selbst wenn er sie stets durch Barabhebungen bezahlt hätte. Die Abrechnung über das Firmenkonto war komplizierter, da bestand die Chance, dass der Betrug unbemerkt blieb. Aber nach allem, was passiert war, würde sein Name ganz oben auf der Liste stehen, und so könnte sehr wohl auch das herauskommen. Das Schlimme aber war, dass die Schuld, die er hierüber empfand, ihm jetzt mehr zu schaffen machte als die Schuld an Rachels Tod. Gewiss, ein Verhältnis mit ihr zu unterhalten war nicht richtig gewesen, aber er hatte sie nun einmal sehr attraktiv gefunden, und nachdem er mit ihr angebandelt hatte, war es ihm schwer gefallen, von ihr zu lassen. Er hätte an jenem Abend nicht noch über die Kreuzung fahren dürfen, aber dass in dem Augenblick der Betrunkene in seinem Porsche auftauchte, dafür konnte er nichts. Anders war es bei den veruntreuten Firmengeldern. Das hatte er mit Wissen und Vorsatz getan und sich das Vorgehen genau überlegt. Jeder machte mal einen Fehler – so konnte er über alles denken, nicht aber über Diebstahl. Er hatte damit angefangen, und
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