Engel des Todes
dann konnte er nicht mehr aufhören. Die Gelegenheit, Sarah alles zu beichten, war in der Woche nach dem Unfall gekommen, und er hatte sie verstreichen lassen. Dieses Verschweigen stellte entweder ein weiteres Vergehen dar, oder es machte das erste noch schlimmer, er fragte sich nur, was von beidem. Er hatte den entscheidenden Schritt getan. Nun saß er in der Falle.
Die alte Frau hörte ihm zu, ohne viel zu sagen. Ihr alles zu erzählen, erleichterte ihn ein wenig, aber nicht wirklich. Er begriff, dass er eigentlich Sarah alles hätte beichten müssen. Das Vergehen gegenüber der Firma war der Diebstahl, die Schuld gegenüber Sarah war die Lüge. Letzteres wog um vieles schwerer. Er nahm sich vor, noch heute Abend, ganz gleich, was sie im Lauf des Nachmittags finden oder auch nicht finden würden, zu Hause anzurufen. Sarah hatte ihn geliebt, und vielleicht tat sie es immer noch. Zumindest würde sie ihm sagen, was er zu tun hatte, und das allein war vielleicht alles, was er an Vergebung erhoffen konnte.
Schließlich – es war wohl schon nach Mittag, wie Tom aus seinen wütenden Eingeweiden entnahm – erreichten sie die Stelle.
Sie waren lange bergauf gegangen. Tom hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden. Eine Zeit lang hatte er wie Henrickson geglaubt, dass die Frau sie in die Irre führen wollte. Doch je länger er sie beobachtete, desto deutlicher sah er, dass sie unterwegs nie den kurzen Augenblick zögerte, den es braucht, um zwischen dem richtigen und dem falschen Weg zu entscheiden. Die ganze Zeit über war es langsam, aber stetig vorangegangen. Sie war mal hier, mal dort abgebogen, hatte sie um Felsen und über Bodenwellen geführt. Für eine Frau ihres Alters war sie erstaunlich rüstig. Nur manchmal zuckte sie zusammen, und zweimal rutschte sie aus und stürzte, da sie sich mit den gefesselten Händen nicht abstützen konnte. Allmählich wurde sie aber doch langsamer und zeigte Zeichen von Müdigkeit.
Schließlich blieb sie keuchend stehen. Mit einer Kopfbewegung wies sie nach vorn.
»Da unten ist es.«
Henrickson überholte sie und näherte sich dem Rand der Schlucht. Er schaute eine Weile nach unten und blickte dann zu Tom.
»Ist das die Stelle?«
Tom ging zu ihm und schaute hinunter in das Flussbett. Auf den ersten Blick sah es aus wie viele andere, die sie durchquert hatten. Dann erkannte er die Stelle, wo er im Dunkeln gesessen und zu der er am folgenden Morgen zurückgekehrt war. Das war vor nicht einmal einer Woche gewesen, und doch schien es ihm eine Ewigkeit her. Es war, als ob er immer wieder an diese Stelle zurückkommen müsste.
»Ja«, bestätigte er. »Da ist es passiert.« Der entscheidende Augenblick, vor dem alles andere grau und vage schien.
»Gut«, sagte Henrickson. Er entfernte sich vom Steilabfall und trat zu Patrice. »Danke schön.«
»Was war daran denn so wichtig?«, fragte Tom. »Warum wollten Sie unbedingt hierher? Oder gehört das zu Ihrer Taktik, etwas zu sein, was Sie nicht sind?«
»Ganz und gar nicht«, wehrte der Mann ab. »Folgen Sie mir.«
Er wandte sich ab und ging noch ein Stück weiter. Nach einer Weile bog er ab und drang zwischen eng stehenden Bäumen wieder bis an den Rand der Schlucht vor. Wenig später blieb er stehen.
Tom starrte verblüfft. Der Mann hatte sie zu dem Baumstamm geführt, der die Schlucht überbrückte.
»Mrs. Anders – würden Sie bitte Tom sagen, was wir hier haben?«
»Einen umgestürzten Baum«, antwortete sie.
Henrickson schüttelte verneinend den Kopf, tat die letzten Schritte bis zum Rand und stieg auf den quer liegenden Stamm. Er besah sich den Stumpf und lief dann über den Stamm, als ob er behaglich breit wäre.
»Beide Enden des Stammes sind bearbeitet«, stellte er, in die Hocke gehend, fest. »Außerdem ist er entästet und um rund zwanzig Grad verlagert worden. Ich bin erstaunt, Tom, dass Ihnen das nicht aufgefallen ist.«
»Ich war schlecht drauf«, bot Tom als Erklärung an. Das entsprach zwar der Wahrheit, aber er musste sich eingestehen, dass es ins Auge sprang, wenn man es einmal gesehen hatte.
»Um diese Jahreszeit kann man den Fluss unten überqueren«, sagte Henrickson, »aber sobald es Frühjahr wird, muss man in beiden Richtungen erst lange gehen. Das hier ist ein Steg, der bewusst angelegt wurde. Unsere Waldfreunde haben ihn gebaut. Da war Intelligenz am Werk, um von einem Ufer zum anderen wechseln zu können. Tom, das ist der Beweis. Ich sagte Ihnen doch, dass sich der Weg lohnen
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