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Engel des Todes

Engel des Todes

Titel: Engel des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marshall
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mit dem neuen Namen ergab, dass ein Kaufhaus dieses Namens einmal an der Fenwick Street bestanden hatte und dass es damals eines der führenden Häuser in der Stadt gewesen war. So groß muss es gewesen sein, dass mein Vater wohl gedacht hatte, es würde auch in Zukunft noch bestehen.
    So weit, so gut. San Francisco hatte sich für mich bestätigt. Mein Bruder war also fähig, die Wahrheit zu sagen.
     
    Die Fenwick Street war zu Fuß zehn Minuten vom Hotel entfernt. Auf den Straßen drängten sich am späten Nachmittag Spaziergänger und Kauflustige und warfen ihre langen Schatten auf blank gefegte graue Bürgersteige. Obwohl man die Straße verbreitert hatte und die Geschäfte in den Häusern fast überall neu gestaltet worden waren, konnte es keinen Zweifel geben, dass ich in der richtigen Gegend war.
    Als ich mich auf Höhe des stattlichen Gebäudes befand, in dem früher einmal Harrington’s residiert hatte, blieb ich stehen. Die Menschen wirbelten um mich herum wie Blätter um einen Felsen. Die alte Ladenfront war jetzt zweigeteilt und bestand aus einer Gap-Filiale und einem großen Kosmetikladen, aus dem Frauen allen Alters mit strahlend lächelnden Gesichtern und sehr, sehr kleinen Einkaufstüten strömten. In den oberen Stockwerken schienen Anwälte ihre Höhlen zu haben.
    Meine Augen hefteten sich auf den Bürgersteig vor mir. Ich erinnerte mich nicht daran, über diese ganz bestimmte Stelle gegangen zu sein, und doch war es so gewesen. Ich war hier an der Hand meiner Mutter entlanggegangen. Mein Vater hatte uns gefilmt. Beide waren nicht mehr am Leben, aber die Stelle gab es immer noch und mich ebenfalls. Ich war jetzt älter als sie damals, war aber zu jener Zeit etwa so alt wie ein kleines Kind, das in einer Sportkarre an mir vorbeigeschoben wurde. So ganz anders als ich erschien mir dieses Kind, dass ich kaum glauben konnte, selbst einmal so klein gewesen zu sein.
    Was für ein Rätsel ist doch die Zeit.
    Am folgenden Morgen war ich fünf nach neun am Telefon. Um halb elf wusste ich nur so viel, dass man von Sozialbehörden keine prompte Auskunft erwarten darf. Nach einer Weile hatte ich beim Wählen in immer neuen Menüs so oft die Tasten gedrückt, dass ich fürchtete, am Ende zu mir selbst durchgestellt zu werden, was mir einen wirklichen Schrecken eingejagt hätte. Stattdessen ging ich nach draußen und machte mich auf die Socken.
    Nach fünf Minuten wünschte ich, ich hätte es beim Telefonieren belassen. Nichts kann uns eindringlicher klarmachen, wie glücklich wir eigentlich sind, als der Warteraum einer x-beliebigen Behörde. Man betritt einen Nicht-Ort, wo es keine Zeit zu geben scheint. Man sitzt auf Stühlen mit abgewetzten Polstern in trüben Blau- oder Grüntönen, die kein Mensch jemals als Lieblingsfarbe angeben würde. Man schaut auf Zeichen, die ohne Belang zu sein scheinen, unverständliche Mitteilungen aus einem Reich, in dem Punkt und Komma unbekannt sind. Man wartet, bis das Warten seinen Sinn und Zweck verliert und man sich vorkommt wie ein Stein, den ein Gletscher vor vielen tausend Jahren auf einem Geröllfeld abgelagert hat. Man ist einfach da, mehr weiß man nicht. Jede Vorstellung von Individualität kommt abhanden, der Gedanke, sich von den anderen durch etwas anderes zu unterscheiden als durch das Problem, weswegen man hergekommen ist. Infolgedessen wird man selbst zu diesem Problem und nimmt es als Identität an, bis es einen ganz ausfüllt. Als Gattung ertragen wir die Nähe der Artgenossen nicht in unbeschränktem Maß und nicht unter diesen Umständen, vor allem nicht, wenn wir uns so klein fühlen. Wir werden dann zu Reihen böser, unruhig wandernder Augen, wir hassen jeden in unserer Umgebung und wünschen uns innig, der andere möge tot umfallen, damit wir einen Platz weiterrücken.
    Aber vielleicht war nur ich so.
    Ich musste lange warten, ehe ich einem Verantwortlichen mein Anliegen vortragen durfte. Dann dauerte es eine Weile, bis die Tatsache, dass ich keinen festen Wohnsitz hatte, auch für die Behörde plausibel erschien. Ich gab an, einen Bruder zu haben, von dem ich annahm, dass er Mitte bis Ende der 1960 er Jahre, wahrscheinlich um 1967 , in San Francisco zu anderen Menschen in Pflege gegeben worden war; dass ich glaubte, dieser Bruder trage den Namen Paul; dass ich versuchte, ihn ausfindig zu machen; und dass ich keine anderen Hinweise auf ihn hatte, als dass er zum Zeitpunkt seines Auffindens einen Pullover trug, auf den sein Name gestickt war. Der

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