Engel des Todes
»Das glaube ich nicht, aber ich danke Ihnen trotzdem für Ihre Mühe.«
Ich stand auf und ging zur Tür. Ich hatte schon die Hand auf der Klinke, als sie mich fragte: »Sind Sie krank?«
Ich schaute sie verblüfft an. Einen Augenblick lang dachte ich, sie wollte auf etwas ganz Bestimmtes hinaus.
»Wie meinen Sie das?«
Sie hob eine Augenbraue. »Ich meine, haben Sie vielleicht erfahren, dass Sie eine erbliche Anlage zu einer Krankheit haben, über die ein anderer Bescheid wissen sollte, weil er dieselbe Anlage haben könnte?«
Ich schaute ihr direkt in die Augen und wollte schon lügen.
»Nein«, sagte ich schließlich. »
Ich
bin nicht krank. Aber mit ihm stimmt etwas nicht.«
Ich überließ sie ihrem Beamtenschicksal und ging den langen Flur zurück in die Außenwelt, wo ich wieder frei atmen und rauchen konnte und mit meinen Problemen allein war.
»Was nun, Bobby?«
Stille. Er war wieder nicht auf seinem Posten. Hatte sich irgendwo da draußen in der Geisterwelt verdrückt, mit einem Bier und einem Grinsen, das die anderen Geister erschreckte.
Mittlerweile war es später Nachmittag, und auch ich hatte mir ein Bier genehmigt. Ich saß draußen vor dem Café L’Espresso, gleich um die Ecke von meinem Hotel. Meine Füße taten weh und schienen nur noch aus Knochen zu bestehen. San Francisco ist ja wirklich eine feine Stadt, aber, ehrlich gesagt, entschieden zu bergig.
Nach dem Flop am Vormittag hatte ich das Einzige getan, was mir noch eingefallen war. Vielleicht war Paul ja gar nicht in die bürokratischen Mühlen geraten. Vielleicht hatte ihn jemand auf der Straße aufgelesen, vielleicht hatte ihn die freundliche Frau eines Ladenbesitzers an der Hand genommen. Dass ich so etwas denken konnte, kam wohl von Mrs. Duprees Erzählungen von Zügen mit Waisenkinder, die gen Westen fuhren. Ich sah aber wirklich keinen anderen Weg, und irgendetwas musste ich schließlich tun, um ihn zu finden. Ich hatte lange genug meine Zeit vertrödelt. Das hier war meine Aufgabe und sonst niemandes.
Da es keine visuellen Anhaltspunkte gab, an die ich mich halten konnte, versuchte ich etwas anderes. Meine Eltern waren keine Unmenschen gewesen, die ein Kind den Löwen vorwarfen. Alles sprach dafür, dass sie das Kind an einem Ort zurückgelassen hatten, von dem sie annahmen, dass dort regelmäßig Fußgänger vorbeikamen. Sie selbst waren zu Fuß dort gewesen. Zweijährigen Kindern kann man nur kurze Strecken zumuten. Ich musste also einen belebten Platz finden, der vom Union Square aus leicht zu Fuß zu erreichen war. Im schlimmsten Fall würde das ein Platz sein, auf den die Beschreibung passte und der auf einer Straßenbahnlinie lag.
Ich kaufte mir einen Stadtplan und ging los. Aber ich stieß auch jetzt auf nichts, was mir weiterhalf, und wieder wusste ich nicht, was ich tun sollte. Vor ein paar Monaten hatte ich versucht, auf eine E-Mail zu antworten, die mir Paul geschickt hatte. Die Mail kam binnen einer Stunde an mich zurück, Adresse unbekannt, Empfänger nicht eruierbar. Er hatte geschrieben, um mir seinen Standpunkt mitzuteilen, aber nicht, um mit mir ins Gespräch zu kommen. Auch da war keine Spur, die zu ihm führte.
Ich trank mein Bier aus und ging die wenigen Schritte zurück zum Hotel. Während ich den Empfangsraum durchquerte, rief mich jemand beim Namen. Ich drehte mich langsam um.
Der muntere junge Mann an der Rezeption hielt einen Umschlag hoch. »Hier ist eine Nachricht für Sie.«
Das schien nicht möglich. Niemand wusste, wo ich mich aufhielt. Die wenigen Menschen, mit denen ich gern Kontakt aufgenommen hätte, hätten mich auf dem Handy angerufen. Mit dem Gefühl, eine Zielscheibe auf dem Rücken zu tragen, trat ich an die Theke.
Ich nahm das Papier an mich, dankte dem Angestellten und ging wieder. Ich öffnete den Umschlag und las folgende Mitteilung:
Diese Dame könnte Ihnen weiterhelfen, wenn sie bereit dazu ist.
Darunter stand die Telefonnummer der unbekannten Dame und der Name der Person, die mir diese Mitteilung geschickt hatte. Muriel Dupree.
Ein Anruf, eine kurze Internetrecherche und eine anschließende Dusche, dann ging ich wieder hinunter und rief vor dem Hotel nach einem Taxi. Es dauerte eine Weile, bis ich einen Fahrer fand, der bereit war, mich dorthin zu bringen, wohin ich wollte, nämlich auf die andere Seite der Bucht und dann noch ein gutes Stück weiter. Der Fahrer, den ich schließlich fand, hatte es auf ein Aufgeld abgesehen, denn er bot mir den zweifelhaften
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