Engel des Todes
Arbeit – denn er hatte selbstverständlich keine. Das war ein Teil des Problems. Vielleicht sogar das ganze. John war ein überragender Ermittler. Nichts konnte ihn bremsen, wenn er an einem Fall dran war. Er ließ nicht eher locker, bis er ihn aufgeklärt hatte. Aber er konnte nicht wieder ins LAPD zurückkehren, und anderswo zu arbeiten, konnte er sich nicht vorstellen. Schon bald war es so, dass er nicht zu Hause war, wenn ich von der Arbeit kam. Er tauchte erst nach Mitternacht auf und wollte nicht sagen, was er in der Zwischenzeit gemacht hatte. Meist war er betrunken, aber das Trinken allein war es nicht. Er begann abzudriften. Er war mit dem Kopf anderswo. Und dann verschwand er plötzlich für fünf Tage.«
»Wo war er da?«
»In Florida, wo seine Exfrau lebt.«
Ich wusste, dass Zandts Ehe nach dem Verschwinden seiner Tochter in die Brüche gegangen war. Ferner wusste ich von einem Besuch bei seiner Frau achtzehn Monate darauf, nachdem er gefunden hatte, was von Karen noch übrig geblieben war. Ich erinnerte mich auch daran, dass er mir in der Nacht vor seiner Abreise gesagt hatte, Mörder seien nicht das einzig Wichtige im Leben.
»Er war auch vor zwei Tagen dort.«
»Ich weiß. Er hat mir eine SMS von dort geschickt.«
»Glaubst du, er möchte es noch einmal mit ihr versuchen?«
»Ich weiß es nicht. Und er weiß es, glaube ich, auch nicht. Er hat nur die fixe Idee, den Upright Man zu finden. Alles andere setzt er in Klammern.«
»Komisch. Mir hat er genau das Gegenteil gesagt.«
»John lügt.« Sie sagte das in sachlich-bitterem Ton, dachte aber besser von ihm. »Manchmal jedenfalls. Manchmal sagt er auch die Wahrheit.«
»Mag sein, aber seine detektivische Spürnase lässt nach, fürchte ich. Seit Yakima hat er mir nur eine völlig unbrauchbare Information über eine Kolonie namens Roanoke vom Ende des 15 . Jahrhunderts präsentiert.«
»Wie bitte?«
Ich berichtete ihr alles, was ich von Johns Geschichtslektion noch in Erinnerung hatte. Als ich damit fertig war, sah sie müde aus. Wir saßen eine Weile schweigend da.
Schließlich stand sie auf. »Ich muss zur Arbeit. Wirst du dringend anderswo gebraucht?«
Ich verneinte. »Nicht dass ich wüsste.«
»Gut. Ich wollte dich noch um einen weiteren Gefallen bitten.«
Nachdem sie gegangen war, machte ich mir noch einen Kaffee. Es tat gut, wieder in einem Haus zu sein, auch wenn es so unwohnlich wie Ninas war. In einem Haus braucht man kein Geld auszugeben oder sich ständig um gutes Benehmen zu bemühen. Man kann einfach nur herumsitzen. Draußen in der Welt ist das anders. Am Ende kam ich mir aber komisch vor, unbeobachtet und unbelästigt von anderen Menschen einfach so dazusitzen. Deshalb machte ich mich an die Arbeit, um die mich Nina gebeten hatte.
Ehe sie mit der Speicherkarte, die ihr Greg McCain gegeben hatte, ins Büro ging, hatte ich alle Dateien überspielt. Die Karte selbst und die Festplatte aus Jessicas Mund befanden sich nun bei der Polizei. Wie sie erklären wollte, dass die Speicherkarte erst jetzt in die Hände der Cops kam, war mir schleierhaft. Mir gefiel es gar nicht, dass sie solche Risiken auf sich nahm. Sie war die Einzige von uns, die noch einen Halt in der realen Welt besaß, und nun hatte ich den Eindruck, dass auch sie abzudriften begann. Es ist wie mit einem Stecker, der langsam aus der Steckdose gezogen wird. Ich wusste aus eigener Erfahrung, dass der Stecker seine Form verlieren kann und dann nicht mehr in die Dose passt. Die schäbigen Gestalten, die an jeder Straßenecke und in jedem nach Urin stinkenden Toreingang lungern, sind Beweis dafür, dass die Musik der Zivilisation oft aussetzt und dass nie genug Stühle vorhanden sind.
Als Erstes sah ich mir die Videos an. Es waren keine echten Filme, sondern eine lange Abfolge von Einstellungen, die sich ruckelnd vorwärts bewegten. Insgesamt waren es drei. Zwei zeigten eine betrunkene Jessica beim flüchtigen Sex mit drei verschiedenen Männern; zweimal auf der Couch, einmal auf dem Bett. Die Bilder waren grobkörnig, die Szene schlecht beleuchtet, und eine verlief fast in völliger Dunkelheit. In keinem Fall wurde Rücksicht auf die Kamera genommen, die ihren festen Standort bewahrte. Ein Kind, das seine Puppen, Ken und Barbie, gegeneinanderprallen lässt, ohne zu wissen, was es bedeuten soll – so ungefähr sah das Ganze aus. Die Zeitangabe auf allen drei Videos ließ den Schluss zu, dass die Szenen am Ende einer langen Kneipentour aufgenommen worden
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