Engel des Todes
eben ein Versuch.«
»Seid ihr mit der Suche nach dem Täter vorangekommen?« Ich hatte meinen Stuhl so weit wie möglich an den Rand des Decks geschoben und damit für den Fall, dass es wegbrach, meine Überlebenschancen minimal erhöht. Ich hätte mich am Türrahmen festklammern können und Nina an meinem Fuß.
»Nein. Die Polizei verhört die Männer, die am häufigsten ihre Website besucht haben. Viele sind es nicht, und keiner von ihnen scheint wirklich in Betracht zu kommen. Wir haben ihren hartnäckigsten Verehrer vernommen, aber ich glaube nicht, dass mehr dahintersteckt. Wir haben eine vage Beschreibung des Typen, mit dem Jessica in der Tatnacht gesehen wurde. Wir wissen jetzt, dass sie manchmal an Tischen bediente. Die Polizei hat mit allen Leuten gesprochen, für die sie gearbeitet hat. Das ist alles.«
»Was war sie denn für ein Mensch?«
Nina wiegte den Kopf. »Sie stammte aus der Gegend um die Bucht von Monterey. Das Police Department von L.A. fahndet nach ihrer Familie dort. Sie haben eine Adresse, die neueren Datums zu sein scheint, aber die Familie ist wohl verreist. Ihre wenigen Bekannten in L.A. wissen nichts über ihr Leben vor der Zeit, da sie mit ihr bekannt wurden. Du weißt schon, was das für Leute sind: Gestern war wahrscheinlich kein guter Tag, also vergessen wir ihn rasch. Du hättest diese Jean sehen sollen, eine von Jessicas Bekannten. Die beiden waren angeblich befreundet – hatten die gleichen Initialen, verbrachten gemeinsam viel Zeit in Bars, mit einem Wort, dicke Freundinnen. Aber kaum ist sie tot, da denkt so eine wie Jean: ›Schon Scheiße. Wo steigt die nächste Party?‹«
»Reizende Freundin.«
»Was erwartest du? Die Leute löschen ihre Vergangenheit in Echtzeit. Jessica war eine Frau, die allein in ihrer Wohnung lebte, sich manchmal depressiv fühlte, zu viel trank und dann starb. Vielleicht werden wir nie mehr über sie wissen.«
Ninas Stimme war bei den letzten Sätzen immer leiser geworden, am Schluss kaum mehr als ein Murmeln.
»Alles in Ordnung, Nina?«
Sie schaute mich mit ihren grünen Augen an. »Aber ja«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich weiß bloß nicht, was ich auf deine Frage antworten soll. Wer war sie? Sie hatte einen Namen, sie spielte Gitarre, sie lebte und starb. Am Jüngsten Tag wird von keinem von uns viel mehr zu sagen sein.«
»Eine düstere Weltsicht, aber darum geht es mir nicht. Hat John angerufen? Sprüche wie ›er ist gerade einkaufen gegangen‹ kannst du dir sparen. Ich habe schon begriffen, dass er sich aus deinem Leben verabschiedet hat.«
Sie machte den Mund auf, sagte dann aber nichts.
Ich bohrte weiter. »Wo steckt er jetzt eigentlich?«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie leise. »Ich musste ihm anderthalb Tage lang SMS schicken, bis er mich schließlich zurückgerufen hat: Fünf Minuten ausweichende Antworten, und das war’s dann schon. Nicht dass ich ihn mit Liebesbotschaften verfolge. Damit sind wir fertig, und das ist mir ganz recht. Aber ich mache mir Sorgen. Er verhält sich seltsam. Seltsamer als sonst.«
»Was ist denn zwischen euch geschehen?«
»Hast du ihm dieselbe Frage gestellt?«
»Ja.«
»Und was hat er dazu gesagt?«
»Nichts zur Sache.«
»Das passt zu ihm.« Sie machte eine resignierte Miene. »Es lief einfach nicht zwischen uns, Ward. Wie er schon sagte, vielleicht kann man wirklich nicht noch einmal zurückgehen, zumal es da gar nicht viel zu besichtigen gab. Wir hatten ein, zwei Dinge gemeinsam: die Zeit, die wir vor Karens Ermordung zusammen verbracht haben, und dann die Tatsache, dass wir beide keine Chance haben, in der Formation der Spitzenpaare mitzutanzen.«
»Außerdem seid ihr beide ein bisschen zum Fürchten.«
Sie zeigte ihr erstes echtes Lächeln, seit ich zu ihr gekommen war.
»Zum Fürchten?«
»Auf eine nette Art.«
»Aus dem Mund eines Kerls mit Schorf auf den Fingerknöcheln und einer Pistole in der Jackentasche nehme ich das als Kompliment.«
Ich schob meine Hände unter den Tisch. »Du bist eine genaue Beobachterin. Du solltest bei der Polizei anheuern.«
»Willst du mir etwas über den Fight erzählen?«
Mir war nicht danach, Nina von dem Bockmist zu erzählen, den ich mir aus Nervosität geleistet hatte. »Ein Typ wollte mir ständig Bratkartoffeln aufdrängen, da bin ich ausgerastet. Wie es halt so geht.«
Sie zuckte die Achseln. »John war ein paar Wochen hier. Zuerst ging es ganz gut. Wir wohnten zusammen, wir machten Spaziergänge, wir redeten über meine
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