Engel des Todes
waren. Ein anderes Video bildete eine Zeitspanne von vier Stunden ab, während der man die junge Frau abwechselnd beim Fernsehen, beim Frühjahrsputz und beim Gitarrespielen sah. Außerdem machte sie einen halbherzigen Versuch, ein nicht sehr kompliziertes Regal aufzubauen. Die meiste Zeit über trug sie orangefarbene Shorts und sonst nichts. Wieder ein anderes Video zeigte sie, wie sie nur apathisch dasaß, offenbar nach einem Weinkrampf. Das letzte Video war in sehr viel längeren Intervallen aufgenommen worden, vielleicht in fünf- bis zehnminütigen Abständen. Jessica lag, in eine Decke gehüllt, auf ihrer Couch und schlief im bläulichen Flackerlicht eines Fernsehgerätes, das außerhalb des Bildes laufen musste. Am Ende der Sequenz wachte sie auf, schaute fern und trank dazu Kaffee. Nina hatte mir gesagt, Jessica sei Ende zwanzig gewesen. Wie sie hier gerade aufgewacht auf der Couch saß, sah sie aus wie fünfundvierzig.
Dann schaute ich mir die Standfotos an. Die gab es in rauhen Mengen. McCain hatte sie alle in ein großes Verzeichnis getan. Ich kopierte es mir in einen Graphic Viewer und klickte ein paar aufs Geratewohl an. Die Bilder zeigten Jessica bei ähnlichen Beschäftigungen wie auf den Videos, aber nicht beim Sex. Auf manchen war sie ganz, auf anderen halb nackt. Beim Blättern in Zeitschriften, beim Essen, vor ihrem Computer, mit einer Tasse Kaffee oder einem Glas Jack Daniel’s. Schlafend, rauchend, ins Leere starrend. Je mehr Bilder ich von ihr sah, desto unfassbarer wurde alles, und ich begriff, was McCain an Jessica fesselte. Webcams waren für mich nichts Neues, ich hatte schon so manche Stunde damit verbracht, Straßenecken in New Orleans oder einen Uferstreifen des Lake McDonald zu beobachten und mich in Ansichten der Hauptstraßen öder Provinzstädte im Mittleren Westen zu vertiefen. Ich brauchte eine Weile, bis ich begriff, was ich diesen Bildern entnehmen konnte. Man schaute sie sich nicht an in der Hoffnung, etwas Spannendes zu sehen. Das Gegenteil war der Fall. Man schaute, weil das Fehlen einer erkennbaren Beschäftigung oder einer Thematik das Ganze wirklicher erscheinen ließ. Wenn man auf etwas ganz Bestimmtes schaut, dann nimmt man nur das wahr. Man sieht nur das Ereignis und nicht den Strom fader Ereignislosigkeit, der den Hintergrund dazu bildet. Wenn man nichts sieht, dann sieht man alles. Man sieht es so, wie es ist.
Die Ansammlung von Zufallsansichten dieser jungen Frau ergaben denselben Effekt. Keines der Bilder war komponiert, auf vielen befand sie sich teilweise außerhalb des Bildausschnitts oder nicht im Mittelpunkt. Sie zeigten nichts Bestimmtes und enthüllten alles. Der Betrachter bekam eine Sicht auf ihr Leben, das ihrer eigenen Sicht sehr nahe kam: eine endlose Folge ungestellter, ungedeuteter und letztlich ziemlich fader Augenblicke. McCains Sammlung von Jessica-Bildern offenbarte das Wesen dieser Frau, feierte und bannte es in Pixeln. Ihre fünfzehn Megabyte Ruhm.
Nach diesem Einblick in ihr Leben vor dem fatalen Ereignis warf ich noch einen Blick auf die Polaroidfotos, die mir Nina überlassen hatte. Auf ihnen war Jessicas Wohnung am Tag der Auffindung ihrer Leiche durch die Polizei zu sehen. Auch die Fotos boten banale Ansichten, aber sie waren nicht bedeutungsfrei. Jeder Quadratmillimeter sprach von etwas ganz Bestimmtem. Aus ihrer bloßen Existenz ging hervor, dass die junge Frau, die hier gelebt hatte, tot war. Deshalb hatte ich zuerst die anderen Bilder sehen wollen.
Ich betrachtete die Fotos genau. Dann ging ich zurück an den Anfang der Dateien von der Speicherkarte, gab den Befehl, sie chronologisch zu ordnen, und schaute sie mir noch einmal an.
Es dauerte eine Weile, bis mir etwas auffiel.
»Siehst du es?«
Nina nickte. »Gibt es keine Aufnahme, auf der das besser zu erkennen ist?«
»Besser geht es nicht. Ich habe es vergrößert, aber …«, ich wechselte zu einem Fenster, das hinter dem ersten verborgen war, »wir leben eben nicht im Kino, und deshalb sieht eine Vergrößerung so hundsmiserabel aus.«
Nina beugte sich nach vorn und betrachtete das Bild auf dem Schirm. Es war grau und grobfleckig und zeigte Jessica von der Brust aufwärts, wie sie auf dem Bett lag, und über ihr das Gesicht eines Mannes.
Wir interessierten uns beide nicht für den Mann. Das Police Department trödelte nicht und hatte die Fotos der drei Männer, die auf McCains Videos zu sehen waren, bereits ausdrucken lassen. Sie wurden nun Jessicas Bekannten gezeigt,
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