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Engel des Todes

Engel des Todes

Titel: Engel des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marshall
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weichenden Dunkelheit golden und rosa schimmerten. In der zweiten Einstellung rückte alles näher heran, in der folgenden Viertelstunde zoomte die Kamera und drehte sich in eine ganz andere Richtung. Es war nicht ersichtlich, wie der kleine Ausschnitt ins Gesamtbild der Stadt passte. Bäume füllten zum großen Teil das Bild, dazwischen verlief eine Schnellstraße in die Stadtmitte. Einige Frühaufsteher waren schon unterwegs zur Arbeit. All das kam viel heller heraus, weil die Kamera nicht mehr so viel Himmel aufnehmen musste. Die letzte Einstellung bot wieder eine Fernsicht auf den Zusammenfluss von Allegheny und Monongahela. Die Perspektive war nicht mehr dieselbe, nun blickte man weiter südlich auf den Monongahela, genau an dem Punkt, wo er in den Allegheny strömt. Die Fort Pitt Bridge war dunkel. Auch sonst fehlten die Lichter, entweder weil die Stadtverwaltung die Laternen um Schlag sechs ausschaltete oder weil die Kamera vor dem nun helleren Himmelshintergrund alles unterhalb des Horizonts falsch wiedergab.
    Er hatte sich lange in diese Bilder versenkt, bis er verstand, was das Netz über die Menschen sagte, die sich das anschauten. Es sagte, dass man in einer Stadt leben und zu ihren Bewohnern zählen konnte, ohne dazuzugehören oder ein Teil des größeren Bildes zu sein. Wie Mäuse, die in einem Haus lebten. Zwar war das ihre Adresse, doch das hieß nicht, dass sie Rechte gehabt hätten, dass sie nicht lediglich amüsante Staffage und Beute für Katzen und Fallen gewesen wären. Ebenso konnte man den ganzen Tag in einem Restaurant sitzen und blieb doch lediglich ein Typ, der vorübergehend einen Platz einnahm, der jemand anderem gehörte, und Geld im Austausch für Kaffee und Buletten hinlegte. Auch wenn man ein schmuckes Häuschen in der Vorstadt besaß, musste man dafür in jeder Hinsicht zahlen: Das Darlehen, das man für den Kauf der Immobilie aufgenommen hatte, musste abgestottert werden, man griff nach dem Notgroschen, der für den Zahnersatz des Sohns oder für die Aussteuer der Tochter bestimmt war. Man hatte in die Versicherung eingezahlt, die einmal für die Pflege der krebskranken Eltern aufkommen sollte, aber nicht ihr Leben retten würde. Man stellte seine Lebenszeit anderen zur Verfügung, die damit arbeiteten und allerhand machten. Diese Stunden und Tage waren ihre geheime Zutat, ihr Zauberkraut, Leben, das in den großen Kessel einging, aus dem der heilkräftige Trank gekocht wurde. Im Gegenzug durfte man hoffen, einen Teil der Schulden bei Banken, Krankenhäusern und Schicksalsgöttern zurückzuzahlen. Und so ging das hin und her, Tag für Tag, auf dem Weg zwischen dem Zuhause und der Arbeit, in einem Fahrzeug, das man auf Raten abstotterte und das binnen weniger Tage abgeschleppt würde, wenn die letzte Rate nicht pünktlich eingetroffen war.
    So ging das fort und fort bis zu dem Alter, in dem das Leben plötzlich rückwärts laufen würde. Statt ein eigenes Haus zu besitzen, hat man dann nur noch ein Zimmer im Haus der Kinder, vorausgesetzt, diese nehmen einen überhaupt auf, und schließlich sitzt man in einem Pflegeheim in einer Runde alter Säcke, die man vorher nie gesehen hat und auf deren Bekanntschaft man gern verzichtet hätte. Alte Leute sehen sich zwar äußerlich ähnlich, doch das heißt nicht, dass sie sich auch innerlich ähneln; aber das verstehen die Jungen nicht. Es haben auch nicht alle denselben Rhythmus. Mehr noch als der körperliche Verfall macht die zunehmende Beschleunigung deutlich, dass es mit dem Leben bergab geht. Die Zeiten als Hausbesitzer und Ratenzahler, die Darlehen und hochgesteckten Ziele, alles das ist vorüber und gelöscht von der Festplatte des Lebens. Es wird einem genommen, wie man einem Kind ein Küchenmesser aus der Hand nimmt. Die Dinge, die man erstanden hat und die einmal ein Ambiente geschaffen haben, werden verkauft oder weggeworfen, und nun sieht man sich in ein kleines Zimmer gequetscht, als wäre man wieder elf oder zwölf Jahre alt. Anders als damals fühlt man sich aber nicht eins mit der Welt draußen, denn das Ganze ergibt schon lange keinen Sinn mehr. Man sitzt in stillen Räumen und schaut aus dem Fenster und fragt sich, was mehr Grund zur Panik gibt, die Tatsache, dass man so viel vergisst, oder die Erkenntnis, welch geringen Wert das Vergessene doch eigentlich hat. Die Persönlichkeit, für deren Aufbau man Jahrzehnte gebraucht hat, löst sich auf und wirft den Einzelnen in die Unselbständigkeit zurück. Und niemand kann sich

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