Engel des Todes
damit trösten, dass das nur ein vorübergehender Zustand sein wird. Die eigene Zeit ist abgelaufen, von nun an ist man nur noch Hintergrundfarbe in der Zeit der anderen, und selbst das nicht mehr für lange.
Unterdessen fahren andere Leute auf derselben Autobahn von der Arbeit nach Hause, sie leben in dem Haus, in dem man selbst einst gewohnt hat, sie tapezieren die Wände neu und räumen die Regale aus, und die Erde dreht sich weiter.
An einem Tag, als seine Großmutter einen besonders mühsamen Weg zur Toilette hinter sich hatte und nun erschöpft und beschämt wieder in ihrem Sessel saß, schaute sie den Jungen an und sagte: »Es ist traurig, dass ER in seiner Güte das Schlimmste an den Schluss gesetzt hat.«
Er hatte nicht auf Anhieb verstanden, aber sieben Monate später, als er sich zwei Stunden nach der Rückkehr von Großmutters Beerdigung hinter einem Sessel im Wohnzimmer versteckt hatte, begriff er. Er saß dort schon eine ganze Weile und dachte an die alte Frau, da kam plötzlich seine Mutter mit einer Schallplatte ins Zimmer. Sie ging zum Plattenspieler, legte die Platte auf und ließ sich dann in einem Sessel nieder, um zuzuhören.
Er hatte einen Schreck bekommen. Er wusste nicht, was er tun sollte. Ihm war klar, dass dies ein intimer Augenblick für seine Mutter war und dass sie keineswegs erfreut wäre zu entdecken, dass sie nicht allein war. Das wurde ihm schmerzlich bewusst, als er etwas hörte, das wie das Schluchzen seiner Mutter klang. Er hatte seine Mutter vorher nie weinen hören. Er sollte es auch nie wieder hören.
Er blieb sitzen und lauschte.
Seine Mutter hörte sich die Aufnahme von Anfang bis Ende an. Dann stand sie auf, riss die Platte vom Plattenspieler und warf sie in eine Ecke des Zimmers, wo sie zu Bruch ging.
Darauf lief sie aus dem Zimmer und verließ türenschlagend das Haus.
Als er sicher sein konnte, dass seine Mutter nicht mehr im Haus war, kam er aus seinem Versteck hervor. Sein Gefühl sagte ihm, er müsse so rasch wie möglich das Wohnzimmer verlassen, nach oben gehen und sich mit irgendetwas beschäftigen. Sein Verstand wandte dagegen ein, dass seine Mutter sicherlich auf dem Weg in die nächste Bar war und dass er herausbringen musste, was für eine Musik das gewesen war. Am Ende siegte sein Verstand.
Er ging zum Plattenspieler und sah sich die Plattenhülle an. Es war das
Requiem
von Fauré, er kannte es aus Großmutters Zimmer. Es war eine der Habseligkeiten, die sie mitgebracht hatte, als sie bei ihnen eingezogen war, weil sie wegen ihrer Gebrechlichkeit nicht mehr allein leben konnte. Die Hülle war verblasst und zerknittert und sah aus, als sei die Platte sehr oft herausgezogen und wieder hineingesteckt worden, als Großmutter noch lebte und die Musik ihrer Wahl hören konnte. Vielleicht ging er deshalb in die Ecke, hob das größte Bruchstück der zerbrochenen Platte auf und nahm es mit auf sein Zimmer. Er ahnte vielleicht, dass eine Zeit kommen würde, da er wieder unter fremde Aufsicht käme, und dass er die Zeit dazwischen nutzen müsse.
Er war zwölf Jahre alt. Vier Jahre später kaufte er sich seine erste Platte: Faurés
Requiem.
Schon damals hörte er sie sich nur für sich allein an. Ihm war nicht verborgen geblieben, dass Fauré zu den Komponisten gehörte, die eine Spur zu bekannt waren. Wie Vivaldis
Vier Jahreszeiten,
Beethovens
Fünfte
und Bachs
Air
aus der
Suite in D-Dur.
Wer dafür schwärmte, galt als ungebildet, ganz gleich, wie sehr man diese Musik auch mochte, denn man war von Leuten umgeben, die sich an Vorstellungen – einschließlich der Vorstellung, klug und originell und nicht wie die Masse zu sein – und nicht an Erfahrungen hielten. Diese Leute bewunderten lieber etwas, als es wirklich zu mögen, sie lebten lieber ein außengesteuertes Leben und gönnten sich nur heimlich etwas.
Solche Leute hatten nicht den Mut, sich klarzumachen, dass man nur entschieden genug zu handeln brauchte, um die Welt aus den Angeln zu heben.
Es war kurz vor dem Zeitpunkt, da er solche Leute, eigentlich alle Leute, weit hinter sich lassen und seinen eigenen Weg finden sollte. Dass er seine Mutter belauscht und die fremden, hässlichen und doch faszinierenden Laute, die aus ihrem Innersten kamen, vernommen hatte, war eine unbestreitbare Realität gewesen. Es war etwas, das wirklich passiert war, etwas, das die Farbe der Welt verändert hatte, genauso wie der Tod seiner Großmutter eine unauslöschliche Spur hinterlassen hatte. Das war wie das
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