Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Engel des Todes

Engel des Todes

Titel: Engel des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marshall
Vom Netzwerk:
könnte meinen, das Frühstück sei das erste Ereignis des neuen Tages, aber das stimmte nicht, jedenfalls nicht für die Gäste. Es war das letzte. Sie kamen mit zerknautschtem Gesicht von einem nächtlichen Kneipenbummel durch eine fremde Stadt ins Hotel zurück. Katelyn stellte sich gern vor, wie sie die Schuhe wegkickten und sich brav an den in jedem Zimmer vorhandenen kleinen Tisch setzten oder aber vom Schluckauf geschüttelt sich auf das Bett fläzten und nach einem Kugelschreiber angelten, um mit hochgezogener Augenbraue das Menü anzukreuzen. Wer auf Urlaub oder auf Geschäftsreise war, für den hatte die Frühstücksbestellung eine geradezu existenzielle Bedeutung, denn sie erinnerte ihn mitten in der Nacht daran, wer er war oder für wen er gehalten wurde, mochte er auch blau wie ein Veilchen sein.
    So dachte Katelyn darüber. Sie hatte einmal versucht, es einem Angestellten an der Rezeption zu erklären, doch der hatte sie nur angeschaut, als redete sie Chinesisch. Manche verhielten sich ihr gegenüber immer so, ganz gleich, was sie sagte. Die Leitung der Nachtschicht wurde nur selten Frauen anvertraut. Das lag wohl daran, dass man es auf diesem Posten mit dem seltsamen nächtlichen Verhalten seiner Mitmenschen zu tun hatte. Leuten, die nicht im Hotel wohnten, musste man erklären, dass die Direktion keinen Taxidienst in die Vorstädte organisierte. Launige Geschäftsleute galt es davon abzuhalten, Frauen ins Hotel zu bringen, die unübersehbar zum Gunstgewerbe gehörten. Wenn sich ein Gast im Fahrstuhl übergeben hatte (die Leute übergaben sich immer im mittleren Fahrstuhl, keiner wusste, warum, nicht einmal Burt), ging es darum, so rasch wie möglich jemanden zu finden, der den Fahrstuhl sauber machte. Die meisten Nachtschichtleiter hofften nicht mehr auf einen Aufstieg. Sie hatten wie die Wärter von Lebenslänglichen ein eigenes Verhältnis zur Außenwelt. Sie kamen um neun Uhr abends oder noch später, je nachdem, wann die Direktion den Nachbetrieb beginnen ließ, suchten sich einen Platz im rückwärtigen Servicebereich und tranken Kaffee. In guten Nächten blieben sie dort, bis die Sonne aufging, und erhoben sich nur hin und wieder, um nachzuschauen, ob die Wartung, Reinigung und Bevorratung des Hotels erledigt wurde, von Leuten, die nur halb so viel verdienten wie sie. Wenn ein Brand gemeldet wurde, kommandierten sie andere herum, bis das Problem gelöst, vergessen oder überholt war, dann blätterten sie wieder in Zeitschriften. Im Morgengrauen verdunsteten sie wie der Tau, kehrten in ihre Wohnung oder ihr Häuschen zurück und verschliefen dort wie Fledermäuse den Tag.
    Katelyn war anders. Während sie aufwärts fuhr, bescheinigten ihr die Spiegel der Fahrstuhlkabine, dass sie eine junge, attraktive Frau war. Na ja, nicht mehr wirklich jung. Aber ihre Haut war makellos, ihr Haar hatte natürliche Fülle, sie hatte eine markante Nase, und in dem anthrazitfarbenen Kostüm sah sie sehr professionell aus. Eigentlich brauchte sie hier nicht zu arbeiten. Vielleicht sollte sie gar nicht hier sein. Ins Hotelgewerbe konnte man ohne Berufserfahrung eintreten, aber sie hatte genug Management-Gurus mit Flipchart-Tick kennengelernt, um zu wissen, dass solche Spielchen nicht vor praktischer Erfahrung bestehen können. Tagsüber wirkt ein Hotel wie eine große Maschine, die nach eigenen Gesetzen läuft. Gewiss, man brauchte nur einmal hinter der Theke der Rezeption zu stehen oder sich in den Räumen umzusehen, an deren Türen »privat« steht, um diese Illusion zu verlieren. Ein Hotel, so merkte man rasch, war die Verzahnung von tausenderlei Routinen, die mit unterschiedlichem Tempo ausgeführt wurden. Ein Computer aus Fleisch und Stein, auf dem ein Dutzend Programme (manche ganz neu, andere steinalt und voller Mucken) gleichzeitig liefen und daher jederzeit der Absturz drohte. Doch das Ganze hatte Schwung, das Ökosystem hielt sich am Rand der Katastrophe, und das Wartungsteam rannte hechelnd hinterher.
    Nachts war das anders. Die Software lief nur im Stand-by-Modus, und so hatte man Augen für die Ausstattung: Tische, Stühle und Wandleuchten, die auch ohne Gäste ein behagliches Licht verbreiteten. Ebenso die Fahrstühle, die auch in den frühen Morgenstunden ohne erkennbaren Grund surrend auf und ab fuhren. Im ganzen Gebäude mit seinen Fluren und Wänden war das Rauschen des Nachtbetriebs zu hören. Hotels sind Schauplatz des prallen Lebens. Was in einem Cityhotel täglich geschieht, würde in einem

Weitere Kostenlose Bücher