Engel des Todes
Mordfall?«
»Ja und nein. Kein weiteres Opfer mit einer Festplatte. Keine junge Frau.«
»Was dann?«
Monroe sprach nun langsamer und in ruhigem Ton. »Eine Prostituierte namens Denise Terrell kam dort vorgestern Nacht in eine Polizeiwache. Sie machte einen verstörten Eindruck. Sie behauptete, sie habe am Nachmittag einen Termin bei einem Kunden gehabt, und dann sei irgendetwas schiefgelaufen. Danach sei sie neben einem Müllcontainer aufgewacht. Die wachhabenden Beamten bekamen den Eindruck, dass sie eine schwere Gehirnerschütterung hatte, und brachten sie ins Krankenhaus. Am nächsten Morgen konnte sie sich genauer erinnern: Sie hätte eigentlich einen Termin mit einem Stammkunden ihrer Agentur haben sollen, aber dann habe sie ein Geschäft mit einem anderen Mann gemacht, der irgendwie von ihrem Kunden erfahren hatte. Der Mann hatte sie direkt angesprochen und ihr Geld angeboten, wenn sie ihm verriete, wann und wo sie den Kunden treffen werde. Er behauptete, der Kunde schulde ihm Geld, und er wolle ihn in einer Situation zur Rede stellen, wenn er nicht darauf gefasst sei. Die Frau, die in ihrem Gewerbe unter dem Namen Cherri arbeitet, erklärte sich einverstanden.«
»Charles, worauf läuft das hinaus?«
»Die Polizisten fuhren zu der Adresse, die die Prostituierte ihnen gegeben hatte. Dort fanden sie einen Toten. Der Mann hieß Peter Ferillo, ein Restaurantbesitzer mit Beziehungen zum hiesigen Milieu. Er war nackt und lag übel zugerichtet in einem Sessel. Der Täter hatte ihm einen Kopfschuss verpasst. Die Kripo in Portland hat das Zimmer vom Fußboden bis zur Decke auf Fingerabdrücke untersucht, aber nichts gefunden. Dann hat ein Streifenbeamter keine dreißig Schritt die Straße hinauf etwas in einem Blumenbeet entdeckt: einen Flaschenöffner mit Blutspuren. Ferillos Blut. Auch ein ganzer Fingerabdruck konnte abgenommen werden. Einen Abgleich haben sie auch sofort gemacht.«
Der Alkohol in meinem Körper schien wie weggeblasen. Nina und ich schauten uns an.
»Nina«, sagte Monroe schließlich, »der Fingerabdruck gehört John Zandt.«
16
U nterwegs im Auto war er sich jeden Augenblick des Netzes um ihn herum bewusst. Das Netz aus Straßen und Menschen, aus Orten und Dingen. Auch an das andere Netz dachte er, die neue Welt des elektronischen Netzwerkes, diese Parallelwelt mit ihren E-Mail-Zufahrten und Dotcom-Marktplätzen. Wer sich dort umtut, dem fährt die Wirklichkeit wie einem Gott durch die Hände, und was für Erkenntnisse kann man dabei erlangen! Alles im Internet ist Information, alles ist heutzutage im Internet, folglich ist die Welt zur Information geworden. Alles ist nun eine Äußerung dieser Bank aus Wörtern und Bildern, alles ist etwas, das diese Bank sagt oder gesagt hat. Dabei geht es um Kaufen und Schauen, um unsere Gewohnheiten und Sehnsüchte, unseren Kontakt zu anderen, um Schaulust, Streben und Sucht. Das sind wir in Kürze, im Guten wie im Schlechten. Das Netz ist nicht länger passiv. Es erzählt unsere Geschichte, und manchmal braucht die Geschichte Hilfe von außen. Manchmal muss etwas entfernt werden. Jessica zu finden bedeutete einen Neuanfang. Selbstverständlich gibt es viele Jessicas, aber andererseits gab es auch nur die eine. War sie erst einmal gefunden, konnte man ein Fenster auf ihr Leben öffnen und ihre Existenz bestätigen. Man konnte es aber auch wieder schließen, wie man ein Programm schließt. Man konnte das Programm verlassen und neu starten. Dann war das Vergangene fort und alles wieder neu. Die Löschtaste hat ihren guten Sinn. Manchmal muss man einfach ganz von vorn anfangen.
Zu seinen beliebtesten Webcam-Sequenzen gehörten Ansichten von Pittsburgh, obwohl er nie in dieser Stadt gewesen war. Die Sequenz bestand aus drei Einstellungen und ging von fünf Uhr dreiundvierzig bis sechs Uhr vierzehn an einem Morgen Ende Mai. Alles war von ein und derselben Kamera aufgenommen, die allerdings Richtung und Zoomeffekt von Mal zu Mal änderte. In der ersten Einstellung nahm der in Morgenröte getauchte und von Wolken malerisch durchzogene Himmel die obere Bildhälfte ein, links von der Mitte schlängelte sich der Allegheny River, und die Brücken der Sixth, Seventh und Ninth Street spiegelten sich mitsamt ihren Lichtern im dunklen Wasser. Weitere Lichter waren entlang der Straßen zu beiden Seiten des Flusses und in einem Kreis um die Fontäne und den Teich am Ende des Point State Park und des Gateway Center zu sehen. Kleine helle Punkte, die in der allmählich
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