Engel des Vergessens - Roman
seien übrig geblieben von der Prozession, welche an jenem Tag Richtung Eisenkappel abgeführt worden sei. Ich habe auch schweigend gebetet bei jedem Lagerappell, sagt Großmutter. Einmal, im ersten Winter, zu Weihnachten seien sie bis spät in die Nacht gestanden, es habe geschneit, die Frauen mussten in der Kälte in ihren dünnen Kitteln ausharren. Eine Frau habe gefehlt, man wusste nicht, ob sie gestorben oder geflohen war. Sie mussten so lange stehen, bis die Anzahl der Häftlinge stimmte. Der Schnee sei auf den Frauen liegen geblieben. Wir sind so abgekühlt gewesen, dass der Schnee nicht mehr schmolz und sich auf den dünnen Kitteln türmte, sagt Großmutter. Bis tief in die Nacht habe sie ihre Gebetssprüche wiederholt und sich mit der Zunge bekreuzigt, um nicht zusammenzubrechen. Sie sei gerettet worden, ja, ob sie deswegen gerne lebe, wisse sie nicht.
Ich beginne langsam, aus meiner Erstarrung zu gleiten, und denke, dass es ein Unglück gibt, das viel größer ist als meines. Ich sollte mich an Großmutter halten, denke ich, die mit dem Sterben vertraut ist, denn hat man einmal den Tod in die Nase bekommen, wittere man seine Nähe, könne man ihn fortjagen, verscheuchen, sobald man ihn kommen spüre. Ich bin nicht beruhigt, nur ermahnt und zerstreut, verschüttet wie ein Glas Wasser, das nicht mehr zurückgeführt werden kann ins Gefäß, das sich an den Schüttstellen verändert und verdunstet.
* * *
Langsam kehren die Farben des Sommers zurück und wippen im Sonnenlicht auf den Bäumen, dampfen aus den erwärmten Wiesen, auf denen wir uns bewegen. Die Heuernte bestimmt unsere Tage und ich vergrabe mein Entsetzen in einer abgelegenen Ecke meines Bewusstseins. Von Zeit zu Zeit huscht trotz der Hitze ein eisiger Schatten durch mich und schließt mich in seine Finsternis ein.
Onkel Jozi bringt zwei Zicklein über den Sommer auf unseren Hof. Mir obliegt es, sie zu hüten, weil sich die Zicklein ohne Aufsicht sofort vom Hof entfernen oder verlaufen würden. Die verspielten Tiere entdecken einmal, während ich weine, meine Tränen als aromatische Flüssigkeit und lecken sie mit ihren kleinen rauen Zungen ab. Ich muss darüber lachen und nehme von da an Salatblätter auf die Weide mit, mit denen ich die Zicklein heranlocke. Ich lasse die Tiere in meinem Gesicht stöbern und mit ihren Zungen meine Nase und meine Ohren säubern. Das kitzelt und verscheucht alle dunklen Gedanken. Ihre weichen, hellen Körper beruhigen meine Fingerkuppen, die unermüdlich über ihr feines Fell streichen, um etwas von ihrem Weiß aufzunehmen.
Vor Schulbeginn schickt mich Mutter mit einer Gruppe von Bauernkindern ans Meer. Ich solle schwimmen lernen, sagt sie, und mich erholen. Sie legt mir die notwendigen Kleider zurecht, stickt in jedes Kleidungsstück das Monogramm meines Namens und bringt mich zum Gebäude der Bauernversicherung nach Klagenfurt, wo schon die anderen Kinder mit ihren Eltern auf den Bus warten, der uns nach Bibione bringen soll. Im Bus bekommen wir ein orangefarbenes Schild aus Karton mit unseren Namen um den Hals gehängt und eine kräftige Jause, damit wir den Abschied von den Eltern leichter verschmerzen.
In Bibione kämpfe ich gegen eine tückische Beklemmung an, die mich lähmt, sobald ich ins Wasser gehe, um schwimmen zu lernen. Jede kleine Meereswelle, die mein Gesicht streift, jeder Schluck salzigen Wassers, der meinen Hals hinunterrinnt, bringt mich zur Verzweiflung. Ich habe wegen meiner brennenden Augen im Wasser Angst, nie wieder sehen zu können, und schnelle nach jedem Untertauchen hoch wie ein verwundeter Fisch, der sich gegen den Tod wehrt. Meine Angst vor dem Ertrinken verdunkelt die sonnendurchfluteten Tage. Die Farben des weitläufigen Sandstrandes und des graublauen Meeres vermögen nicht, die unheilvollen Schattierungen des gräflichen Fischteiches in den Hintergrund zu drängen.
Dann, eines Tages, fasse ich mir ein Herz und schwimme im seichten Wasser. Meine Arme und Beine bewegen sich wie aus der Todesstarre erwacht, anfangs noch panisch, bald jedoch zuversichtlicher und geschmeidiger. Das Leben hat neue Aussichten bekommen, solange ich Gewissheit habe, Boden unter meinen Füßen zu spüren, denke ich.
Ich freunde mich mit einem Mädchen an, und als wir am letzten Ferientag am Strand spazieren gehen, sage ich, dass ich Abschied vom Meer nehmen müsse, weil ich es wahrscheinlich das letzte Mal sehe. Ich kann ihr nicht anvertrauen, dass ich begonnen habe, letzte Blicke einzuüben, auf den
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