Engel des Vergessens - Roman
glitzernden Sternenozean am Nachthimmel zum Beispiel oder auf die Strandkörbe und Liegestühle, auf Vater zu Hause, wie er kniend eine Motorsäge repariert, auf Mutter, die einen Bund Karotten hochhaltend aus dem Garten tritt, auf die grün angelaufene, zornige Eidechse, die ich beim Hüten der Kühe mit einem Holzstecken bedränge. Meine Freundin blickt mich erstaunt an und auch ich kann mir nicht erklären, warum ich von Zeit zu Zeit glaube, dass das Leben für mich keine Zukunft bereithält.
Zwei Jahrzehnte später wird mir meine Tante, mit der ich im gräflichen Teich schwimmen werde, erzählen, dass Iris an Epilepsie gelitten und im Wasser einen Anfall bekommen habe. Warum sagst du mir das erst jetzt, werde ich fragen. Weil es einmal gesagt werden muss, wird Vera klarstellen, sie habe, immer wenn sie in dieses Wasser geglitten sei, an den Unfall denken müssen. Hätte ich das gewusst, ich hätte als Kind mein Überleben leichter ertragen und wäre nicht mit Bangen in jedes Schwimmbecken gestiegen, werde ich ausrufen. Ich wäre nicht nächtelang im dunklen Wasser gelegen, fern von allem und unsichtbar, eine winzige Leiche, die spricht und unter Menschen lebt, die sich an ihr stoßen.
* * *
Das Wäldchen hinter unserem Haus, das ich auf dem Weg zu Michi und seiner Familie durchqueren muss, wenn ich fernsehen will, wuchert aus. Ich glaubte es gut zu kennen. Ich bin schon unzählige Male durch dieses Wäldchen gegangen und könnte es mit geschlossenen Augen durchstreifen. Nun muss ich all meinen Mut zusammennehmen, um es zu betreten. Früher glaubte ich, jeden Wegabschnitt, jede kleine Lichtung, den stellenweise niedrigen oder hohen Wuchs der Bäume riechen zu können, die Reihenfolge der Haselgewächse, der Himbeersträucher, der Weidenbüsche mit geschlossenen Augen ertasten zu können, spüren zu können, wann sich das Fichtendach über mir öffnete oder schloss. Nun hat das Wäldchen seine Vertrautheit verloren. Es hat sich dem großen Wald angeschlossen und sich in ein grünes Meer gewandelt, voll spitzer Nadeln und scharfkantiger Schuppen, mit einem wogenden, ausufernden Unterholz aus rauen Borken. Kaum schaue ich aus dem Schlafzimmerfenster, drängt sich der Wald in mein Auge oder lauert mit seiner geriffelten und gezackten Oberfläche hinter der Wiese. Eines Tages wird er über seine Ufer treten, fürchte ich, und die Waldraine verlassen, er wird unsere Gedanken überfluten, wie ich schon jetzt das Gefühl habe, dass der Wald die Gedanken der Männer besetzt, die mit meinem Vater arbeiten oder uns besuchen, um mit ihm auf die Jagd zu gehen.
In den Wald zu gehen bedeutet in unserer Sprache nicht nur, Bäume zu fällen, zu jagen oder Pilze zu sammeln. Es heißt auch, wie immer erzählt wird, sich zu verstecken, zu flüchten, aus dem Hinterhalt anzugreifen. Man habe im Wald geschlafen, gekocht und gegessen, nicht nur in Friedenszeiten, auch im Krieg seien Männer und Frauen in den Wald gegangen. Nicht in den eigenen Wald, nein, dafür sei er zu schütter, zu klein und zu überschaubar gewesen. In die großen Wälder seien sie aufgebrochen. Die Wälder seien der Zufluchtsort vieler Menschen gewesen, eine Hölle, in der Wild gejagt worden sei und in der sie gejagt wurden wie Wild.
Die Erzählungen kreisen um den Wald, wie auch der Wald um unseren Hof kreist.
In ihm verborgen die Jagdplätze, die Futterplätze, die Beerenplätze, die Pilzplätze, die man nicht preisgibt. Noch heimlicher sind die heimlichsten Orte, zu denen kein Weg und kein Steig führen, die über Jagdpfade und Bachbette aufgespürt werden müssen, die Versteck- und Überlebensplätze, die Bunker, in denen sich unsere Leute, wie man sagt, versteckt hielten.
In diesem Jahr richtet ein Sturmwind auf den gräflichen Waldhängen große Schäden an. Der Orkan hinterlässt eine breite Zerstörungsschneise, in der die Bäume geknickt, abgebrochen und entwurzelt am Boden liegen. Aus allen Schlägen des Grafen werden die Holzarbeiter zusammengezogen, um den Windwurf wegzuräumen. Wochenlang hängt das Heulen der Sägen, das dumpfe Lärmen der Äxte, das Krachen der Stämme über dem Graben.
An den Wochenenden versammeln sich die Holzfäller auf unserem Hof, um ihr Werkzeug zu schärfen und auszubessern. Ihre Hosen sind mit Pechflecken übersät, die wie kleine Sümpfe glänzen. Von der Mitte der Sümpfe breiten sich kreisförmig Dreckknospen aus und versickern als Pechwolkenschatten im Hosenstoff. Die Hemden der Holzfäller sind durchgeschwitzt,
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