Engel des Vergessens - Roman
zu überleben, denn sie wäre imstande, mich umzubringen, denke ich, ich muss schwimmen, denke ich, bis ich wieder Boden unter meinen Füßen spüre und mich aufrichte. Johanna lacht. Ich schnappe nach Luft, drehe mich um und sehe Iris gekrümmt auf der Oberfläche des Wassers liegen. Ich schreie um Hilfe und laufe zum Schloss, ich rufe die Arbeiter herbei, sie eilen zum Teich und ziehen Iris aus dem Wasser. Das gestreifte Bikinioberteil rutscht von ihren Schultern und entblößt einen weißen Busen, aus ihrem Mund quillt heller Brei. Das Mittagessen, sagt jemand, der versucht, sie wiederzubeleben. Er dreht Iris auf die Seite. Der Brei ist jetzt orange. Sie ist ertrunken, sagt jemand, ich habe sie umgebracht, denke ich. Die Tante zerrt mich und Johanna davon. Im Weggehen drehe ich mich um und sehe Iris blass, so weiß und so blass auf dem sandigen Boden liegen. Ich habe sie umgebracht, denke ich. Gleich kommt ein Arzt, ich soll nichts mehr sehen.
Später kommt auch die Polizei und will mich befragen. Ich kann doch nicht Deutsch, denke ich, ich kann doch nicht sagen, dass ich sie umgebracht habe, also erzähle ich eine Geschichte, dass wir gespielt hätten, dass sie aus heiterem Himmel untergegangen sei, dass ich mich losreißen konnte, so irgendwie. Ich fiebere, schrecke in der Nacht schreiend auf, ich jage auf einem brennenden Rappen davon.
Die Blicke, die sich in den folgenden Tagen auf mich legen, sind traurig und sprachlos. Sie bleiben an der Oberfläche meines Körpers haften, die sich einem Schneckenhaus gleich von meinem wunden Inneren trennt, als ob die Haut von der Entzündung darunter zurückschrecken würde. Ich bin in den Todesköcher geraten und habe den Todesatem gehört, seinen Schlund gespürt. Fast hätte mich der Tod gefasst, wenn ich nicht ins Leben entkommen wäre, in das kaum achtjährige Leben, das in mir gerade Platz genommen hat und nicht davongejagt werden wollte wie ein Dieb. Trotz meiner Fassungslosigkeit fühle ich mich schuldig, überlebt zu haben.
Als ich nach Hause gebracht werde, sagt meine Tante, sie hätten mich um ein Haar verloren, ich wäre beinahe ertrunken, sie mache sich solche Vorwürfe. Mutter sagt, das ist ja schrecklich, sagt sie, mehr nicht. Ich trete für die Anwesenden nicht sichtbar zur Seite und sehe mich auf der Schwelle des Hauses stehen und weinen. Indessen, weine ich wirklich oder denke ich nur daran zu weinen? Nie würde die Person, die ich belauere oder die ich bin, erklären können, wie bestürzt sie gerade ist. Großmutter legt den Arm um mich und sagt, schlaf heute bei mir, du kannst heute bei mir schlafen! In der Nacht dränge ich mich so stark an sie, dass sie mich im Halbschlaf tadelt. Ich kralle mich an ihr fest, als ob ihr knöcherner Körper einer rettenden Lebensinsel gleich neben mir läge.
* * *
Wir stehen vor dem Eingang zum alten Keller, als ich versuche zu schildern, wie das Unglück seinen Lauf nahm. Ich erzähle Großmutter eine Geschichte, die sich fremd und stumpf anhört. Das Einzige, was ich mit Gewissheit empfinde, ist, dass der Tod von Iris übermächtig ist, dass ich unseren Zusammenprall weder verstehe noch ertrage und dass ich Angst vor der Polizei habe. Ich dachte, sie würden mich einsperren, presse ich hervor.
Großmutter greift nach meiner Hand. Ich zeige dir, wie man sich verhält, wenn die Polizei kommt, sagt sie. Du musst dich mit der Zunge am Gaumen bekreuzigen. Drei Kreuze musst du machen und das ein paar Mal wiederholen, siehst du, sagt sie und bekreuzigt sich bei offenem Mund mit der Zunge, die am Gaumen wiegende Bewegungen ausführt. Auf diese Weise, unhörbar, unsichtbar habe sie an jenem Tag gebetet, als sie von der Polizei abgeführt wurde und sich von ihrem ältesten Sohn und dem Neffen, der sich gerade im Haus aufhielt, verabschieden musste. Ich habe mich mit der Zunge bekreuzigt und mit dem Fuß Kreuze in den Boden gezeichnet, sagt Großmutter. Man müsse um eine Rückkehr beten und alle Mächte beschwören, dass man wieder nach Hause kommen wolle. An jenem 12. Oktober 43 seien von den mit ihr verhafteten Nachbarn viele in den Tod gegangen, die Mozgan Marija, die Mozgan-Magd Bricl, der ¢emer Luka, der Kožel Miha, der Topicnik Poldi, die Kach-Männer Jurij, Hanzi und Franz, die Kach-Frauen Marija und Ana seien alle in den Lagern umgekommen. Zurückgekehrt seien nur das Mozgan-Mädchen Amalija, die ¢emer-Kinder Johi und Katrca, der Tschik und die Auprich-Buben Erni und Franz, die Paula Maloveršnik und sie. Sie
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