Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallstein Verlag
Vom Netzwerk:
durchwühlte Häuflein Sägespäne. Die Bloche haben abgeschrägte Randkanten, die Schnittstellen der Stämme leuchten wie frisch geschnitzte Holzteller.
    Vater steht mitten in der Lichtung und überblickt den Schlag, dann sammelt er die verstreuten Spaltkeile ein und deckt sie mit Ästen zu. Jetzt freue ich mich auf ein Bier, sagt er und zeigt Richtung Grenze.
    Zu meiner Verwunderung verläuft die Staatsgrenze nahe am Holzschlag. Vom Waldkamm aus kann ich die jugoslawische Seite des Waldhangs überblicken, die zu meinem Erstaunen der österreichischen gleicht und sich als eine Fortführung der vertrauten Landschaft offenbart. Vater stützt sich beim Überspringen der Grenze auf einen Zaunpfahl. Mich lässt er unter dem Stacheldraht durchkriechen und zieht den untersten Draht hoch, damit ich nicht an den gezwirbelten Stacheln hängen bleibe.
    Plötzlich hat er es wieder eilig. Er hastet mit großen Schritten einen lichten Wald hinunter. Ich kann ihm kaum folgen. Waldfarne schlagen in mein Gesicht. Unter dem Wald wartet er auf mich. Er sitzt im Gras und blickt auf ein tiefer gelegenes Tal, das ganz in der Senke verschwunden scheint.
    Dort hinter der Raduha, Vater zeigt auf einen Bergrücken, dort habe ich im Krieg die Schule besucht. Nicht lange. Vierzehn Tage werden es gewesen sein. Da bin ich in die Schule gegangen, in Luce, sagt er. Sein Bruder und er seien beim Stab der Kuriere gewesen, auf einem Bauernhof. Nach ihrer Flucht von zu Hause durften sie nur zwei Wochen bei ihrem Vater im Bunker bleiben. Dann habe man sie ins Savinja-Tal gebracht, weil das Savinja-Tal befreites Gebiet gewesen ist. Im Januar habe man die Kommandozentrale auflassen müssen, weil das Tal von den Deutschen angegriffen wurde. Die Deutschen haben über das Feld geschossen, dass die Erde nur so gespritzt hat, sagt Vater. Er und die Kuriere haben Schreibmaschinen im Boden vergraben. Sie hoben ein Loch aus, warfen ein bisschen Stroh hinein und haben die Schreibmaschinen darauf geschichtet. Dann streuten sie wieder Stroh darüber und dann Erde und Gras und Schnee, bis nichts mehr zu sehen war. Am Nachmittag hätten sie sich auf den Weg gemacht und seien die ganze Nacht durch marschiert. Am nächsten Tag haben die Deutschen uns weiter gejagt, sagt Vater. Der Schnee ging mir bis zu den Hüften. Ein Kommandant hat gemeint, dass ich nicht durchkommen werde.
    Er spuckt kräftig aus, als ob er sich nach der Erzählung erleichtern müsste.
    Beim Kumer werden wir von zwei Frauen begrüßt, die seinen Namen kennen. Zdravko, rufen sie, Zdravko, das ist schön, dass du wieder einmal kommst! Sie servieren Vater ein Bier und mir ein Brot mit Leberpastete bestrichen.
    Auf dem Rückweg blickt mich Vater abwesend lächelnd an. Ich stelle mir vor, wie schön es wäre, wenn Vater mich ins Vertrauen zöge und mir die Geschichte, die er erzählt hat, noch einmal schilderte und dann fragte, was ich erlebt habe, und ich ihm dann anvertrauen könnte, dass ich auf dem Schulweg erpresst werde und dass ich davon träume, dass er die Mitschülerinnen stellte und von ihnen verlangte, sie sollten auf der Stelle aufhören, mich zu bedrohen. In der Hoffnung, auf Vater zählen zu können, gebe ich ihm ein stilles Versprechen, das ich selbst nicht begreife, ein Zugeständnis, ihn auf seinen Heimwegen und seinen Schulwegen zu begleiten, auf den Wegen in diese Landschaft vielleicht oder in seine Erinnerung. Ich überlege während des Aufstiegs durch den Wald, ob ich in meinem Kinderkörper bleiben sollte oder über mich hinauswachsen möchte, und bleibe an diesem Tag in meinem kurzen Rock, in den Baumwollstrumpfhosen und in den Gummistiefeln stecken.
    Als wir unter der Grenze den Finanzersteig betreten, suche ich nach Fußspuren im aufgeweichten Boden, in dem sich Pfützen gebildet haben. Vater sagt, dass die Finanzer heute am Sonntag vielleicht frei hätten, und muss über seinen Einfall lachen.
    Wir erreichen die österreichische Seite, ohne entdeckt worden zu sein, und Vater fragt, ob ich bei einer Treibjagd mitgehen möchte, weil er gesehen habe, dass ich ordentlich gehen könne. Ich sage ja und beschließe, meine Waldscheu zu überwinden. Auf dem Weg zum Mozgan gibt der Wald an einer Stelle den Blick auf verstreut liegende Höfe im Talgraben frei. Wir bleiben stehen und schauen aus dem grünen Dickicht heraus. Wie zwei Fische, fällt mir ein, die aus dem Tang hervorlugen. Ich habe die munteren Fische im Fernsehen gesehen und stelle mir vor, wie Vater und ich mit großen

Weitere Kostenlose Bücher