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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallstein Verlag
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Augen aus dem Unterholzgekräusel blicken und dann darin verschwinden, eine kleine Sandwolke aufwirbelnd, die sich im trüben Wasser nur langsam senkt. Ein Meer voller Halme, denke ich, bald werden wir das Ufer erreichen.
    Als ich zu Vater aufs Motorrad steige, bin ich fröhlich. Ich lege die Hände eng um seine Taille und drücke mich an seinen Rücken. Es ist später Nachmittag, als wir die kurvenreiche Straße der Koprivna hinunterfahren. Die Sonne hält sich auf unserer Höhe. In einer ausladenden Kehre bleibt Vater stehen und raucht eine Zigarette. Früher ist da ein Zaun gestanden, sagt er und bläst den Rauch in die Luft.
    Bevor wir die Talsenke erreichen, fährt er über eine Holzbrücke, zu einem zerfallenden Haus, das sich zwischen Zwetschken und Apfelbäumen verbirgt. Als wir vom Motorrad steigen, steht Jaki, Vaters Holzfällerkollege, auf eine Sense gestützt vor der Haustür. Rund um das Haus liegt das gemähte Gras wellenförmig am Boden.
    Ich bin in die Brennnesseln gegangen, sagt Jaki. Wart ihr im Schlag? Vater bejaht.
    Wenn man nicht regelmäßig mäht, wächst alles zu, sagt Jaki. Er sei heute schon oben beim Blajs gewesen, da wuchere auch das Gras.
    Vater blickt zu einem einsamen Anwesen hinauf, das noch in der Sonne liegt.
    Schade, dass niemand den Hof bewirtschaftet, sagt er. Wer hätte gedacht, dass es so kommen würde.
    Wie viele Brüder sind eigentlich im Lager gestorben, fragt Jaki.
    Die älteren drei, der Jakob, der Johi, der Lipi, sagt Vater. Die Asche von Lipi ist aus Natzweiler gekommen, die anderen sind in Dachau gestorben.
    Ich höre den klingenden Namen Dachau, den ich schon kenne, Natzweiler aber ist neu und sogleich vergessen.
    Sein Onkel sei auch da oben gefallen, fällt Jaki ein. Er sei gerade desertiert, sagt er zu mir, weil er meinen Blick spürt, und sei im ersten Kampf mit den Deutschen verwundet worden. Er habe sich über die Wiese zum Jekl geschleppt und sei blutend unterhalb der Straße, hinter einem Gebüsch, liegen geblieben. Die deutsche Patrouille sei an ihm vorbeigegangen, ohne ihn zu bemerken. Aber dann habe der letzte Mann hingeschaut und ihn erschossen. Die Jekl- Leute mussten ihn neben der Straße begraben.
    Ich weiß, sagt mein Vater, ich kenne die Stelle.
    Die Toten hinterlassen ihre Kühle an diesem Fleck, von dem sich die Sonne zurückgezogen hat. Ich überlege, ob die Kälte, die mich frösteln lässt, auch mit dem Abend zu tun habe und mit dem Wald, der an die Häuser heranrückt. Das Licht beeilt sich, in die Höhe zu kommen. Vater versinkt in Bewegungslosigkeit. Ich bitte ihn, doch nach Hause zu fahren.
    Ja, ja, sagt er, ich solle nicht tschentschen wie meine Mutter. Er entschließt sich erst, auf das Motorrad zu steigen, als Jaki seine Maschine um die Hausecke schiebt. Zu dritt fahren wir die Schotterstraße hinunter, aber an der Weggabelung, an der wir nach links abbiegen müssten, biegt Vater nach rechts und bleibt am Straßenrand stehen.
    Du kannst ja nach Hause gehen, wenn du willst, sagt er, er gehe noch auf ein Bier.
    Ich nehme die Abkürzung über die Gasthofweide, auf der träge, satte Kühe mit ihren Schwänzen um sich schlagen. Auf zwei Baumstämmen, die über den Lepena-Bach gelegt sind, balanciere ich auf die andere Seite des Baches und eile eine Böschung hinauf, hinter der das Quietschen der Schweine aus unserem Stall hörbar wird.
    * * *

Der Wald kann seine Einsamkeit nicht beschützen, seit die Menschen Zuflucht in ihm gesucht haben, seit er die Kontrolle über ihre Irrgänge verloren hat, seit ihn Holzfäller und Jäger durchstreifen auf der Suche nach Beute, seit er zum Bandengebiet erklärt wurde.
    Die Art, wie jemand in den Wald gegangen oder aus dem Wald gekommen ist, habe alles über ihn verraten, heißt es. Trug er ein Gewehr, einen roten Stern auf der Mütze, trug er zwei Hosen übereinander und zwei Mäntel, um nicht zu frieren, kam er im offenen Hemd, mit pechverschmierten und zerrissenen Hosen, trug er ein totes Reh im Rucksack, oder trug er den Speck für die Grünen Kader hinauf zu den höchsten Wettertannen? Trug er einen Korb mit Pilzen, eine Kanne mit Beeren oder Kurierpost in den Taschen? Hatte er ein sauberes Hemd an, roch er nach Pech und nach Rinde, oder stank er ranzig und ungewaschen nach Erde und Angstschweiß, nach Blut und nach Schorf?
    Die Jägerfreunde meines Vaters tragen gebügelte Hosen und Jacken in den Farben der Bäume, sie tragen den Moosgeruch in den Haaren, und den Beutebruch auf den Hüten. Von ihren

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