Engel des Vergessens - Roman
bleiben ein kleinlautes Stammeln und Schweigen, weil mir meine Fassungslosigkeit peinlich ist und weil ich mich für Vater schäme.
Dessen ungeachtet nehme ich ihn in Schutz, wie ihn auch seine Verwandten instinktiv in Schutz nehmen. Sie scheinen sich untereinander geeinigt zu haben, dass man seine Ausbrüche respektieren müsse, dass es keinen Sinn habe, irgendjemanden um Rat zu fragen, weil ohnehin mit Verständnis und Hilfe nicht zu rechnen sei. Es gilt die Auffassung, dass man dem Verhängnis nicht entfliehen kann. Man muss es auf sich nehmen, wie den alten gegerbten Familiennamen, denn diejenigen, die die Flucht ergriffen haben, verlieren sich in der Ferne, verlöschten wie Schall und Rauch.
Ich schreibe die ersten nach Worten tastenden Gedichte und lebe vor der Matura im Schülerheim in einem Niemandsland, in dem mir eine Pause gewährt wird, die ich mit Tagträumen ausfüllen kann und mit nächtlichen Phantasien. Ich hoffe, dass ich später die richtige Sprache finden oder erfinden werde, und ersinne Phantomsätze, die ich in die Zukunft vorauswerfe. Das Gedachte und Gefühlte, das Empfundene und Befürchtete soll erst später zur Sprache kommen, in einem Satz zusammentreffen oder zusammengeführt werden, hoffe ich, irgendwann, wenn es so weit sein wird.
* * *
Im Gegensatz zur kämpferischen Leni, die durch den Krieg politisiert worden ist, misstraut Vater der Politik und lässt sich zu keiner Teilnahme an einer jener Demonstrationen bewegen, die in den Jahren nach dem deutschnationalen Ortstafelsturm stattfinden, weil er der Meinung ist, dass man keine schlafenden Hunde wecken solle. Er und seine Gefährten aus der Kriegszeit hätten keine Lust, sich von irgendwelchen Leuten auf der Straße beschimpfen und bespucken zu lassen. Sogar Michi stellt nach einer Kundgebung der Kärntner Slowenen in Klagenfurt fest, dass er glaube, die deutsche Bevölkerung Kärntens würde es den Slowenen, den Bauern- und Keuschlerkindern, Arbeitern und Angestellten aus dem Unterland jahrzehntelang übelnehmen, dass sie öffentlich aufbegehrten und für die Erfüllung des Staatsvertrages, die Erfüllung des Artikels 7 demonstrierten, für etwas, das der Mehrheit im Lande nichts bedeute. Im Gegenteil, sie empfinde den Staatsvertrag als Strafvertrag, der ihnen nach dem Krieg von den Besatzungsmächten diktiert worden sei.
Die Überzeugung, dass es sinnvoll sein könnte, sich politisch zu engagieren, ist Vater abhandengekommen, oder er hatte sie nie gehabt. Der Gedanke, etwas bewirken zu können, ist ihm fremd. Vater glaubt, dass Politik nur unter Einsatz von Leben gemacht werde. Er glaubt, es gehe immer ums Ganze, nicht um einzelne Interessen. Er kann die Interessen nicht von seinem Überleben trennen. Er beobachtet alle, die im Schutz einer politischen Organisation auftreten oder Halt in einer ideologischen Überzeugung finden, mit Skepsis. Er kann sich keiner politischen Formulierung entsinnen, an die er glauben könnte. Das Einzige, was er über seine Zeit bei den Partisanen zu sagen weiß, ist, dass er als Kind den Kampfeinheiten nicht zugeteilt worden ist, dass die Partisanen sein Leben gerettet haben und dass er die meiste Zeit das Gefühl hatte, auf der Flucht zu sein.
Ich erinnere mich, Vater nur selten aus seiner politischen Zurückgezogenheit so hervortreten gesehen zu haben wie nach einem jener raren Ausflüge mit dem Partisanenverband nach Slowenien.
Nach der Heimkehr gerät er ins Schwärmen über den Empfang, der den Kärntner Partisanen in Jugoslawien bereitet worden war. Er schildert, wie die Partisanen in Slowenien mit großem Gepränge auftreten, wie sie sich staatstragend und machtbewusst geben, wie ihnen noch immer etwas Kämpferisches anhafte, was bei den Kärntner Partisanen nur noch auf die Funktionäre zutreffe. Er erwähnt den beeindruckenden Partisanenchor aus Triest und brummt wie zur Bekräftigung ein paar kämpferische Melodien nach, um zu zeigen, dass er die Lieder und Märsche noch mitsingen oder mitsummen könne. Bei uns werden die Partisanen als Banditen und Mörder beschimpft, sagt er, wie nach dieser Feier in Klagenfurt, als uns die Auszeichnungen des jugoslawischen Staatspräsidenten Tito für unsere Verdienste im Widerstand gegen den Nationalsozialismus überreicht worden sind. Eine Gruppe von Deutschnationalen habe vor dem Klagenfurter Stadthaus auf die Kärntner Partisanen gewartet und sie nach dem Festakt beschimpft. Es sei zu einem Tumult gekommen, bei dem sein Cousin Peter einen
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