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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallstein Verlag
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Nachbarn bleiben und lässt sich im Winter, obwohl er nicht Schifahren kann, die Schier anschnallen und zum Gaudium aller Beteiligten zu einer Höllenfahrt den Steilhang hinunter überreden. Er fährt mit einem alten, schweren Bauernschlitten beim Schlittenrennen als Lachnummer mit, schlürft rohe Eier, bis ihm schlecht wird, steigt auf jeden überfüllten Karren und jeden Baum, wenn er darum gebeten wird. Er trinkt über die Maßen, weil er an das Maßvolle nicht glaubt, weil er, seit er denken kann, nur mit Übertretungen, Übertreibungen und Maßlosigkeiten des Lebens zu tun hat. Zu Hause scheint ihn jede Kleinigkeit zu verunsichern, zu verärgern oder zur Verzweiflung zu treiben. Er verliert rasch die Geduld. Wenn er etwas nicht versteht oder ihm widersprochen wird, schweigt er tagelang.
    Nach Großmutters Tod hört er auf, über seine Selbstmordabsichten zu sprechen. Die Zerstörungswut, die Vater vorher nach innen richtete, entlädt sich nunmehr nach außen. Im betrunkenen Zustand wird sein Körper ein Instrument, das schrille, ohrenbetäubende Schreie hervorbringt. Aus seinem drahtigen Brustkorb schnellt seine Stimme in allen möglichen Tonlagen und in jeder nur erdenklichen Intensität hervor. Sein Toben erinnert an Schreie eines zum Tode Verurteilten. Er läuft in diesem Zustand von Raum zu Raum oder verschanzt sich hinter dem Küchentisch, auf den er einschlägt. Er droht, er werde uns schon zeigen, was er wert sei, wir Kinder und die Mutter wollten doch nichts anderes als ihn zu vernichten. Er macht seinen Beklemmungen Luft, schleudert uns seine Wut als Wortsteinschlag entgegen, der uns unter sich begräbt, aus dem wir uns Stunden später mühsam herausarbeiten müssen.
    Vaters Gedanken kreisen um den Tod. Er ist empfänglich für das Zerstörerische. Im Zustand höchster Verausgabung oder wenn er vom Rastocnik kommt, beginnt er von Morden zu phantasieren, die vor, während und nach dem Krieg in unserer Gegend stattgefunden haben. Er schreit, er wisse, wer vor dem Krieg die nymphomane Katharina umgebracht habe, die erstochen im Lepena-Bach aufgefunden wurde, er wisse, wer den Peternel erschlagen habe, als er nach dem Krieg nach Hause gekommen sei, er wisse, wen die Partisanen im Benetek-Graben haben verschwinden lassen, er schreit, er fühle sich bedroht, er werde eines Tages auch erschlagen werden, und zwar von seiner Frau, sie habe schon alles eingefädelt und geplant, sie habe schon Hacke und Spaten bereitgelegt, um ihn nach dem Mord zu verscharren. Er ist fest überzeugt, dass Mutter an all seinen Verstimmungen schuld sei. Er wirft ihr vor, dass sie ihn als Mann demütige, dass sie ihn verrate und bei jeder Gelegenheit das Falsche sage. Sie könne ihn nicht verstehen und bringe ihn mit ihrer Art in Verruf, sie habe kein Mitleid mit ihm. Er wirft ihr vor, als Tochter einer Tagelöhnerin nicht dankbar genug zu sein, dass sie auf einen Bauernhof heiraten und sich sozial verbessern konnte.
    Mutter ist weit davon entfernt, Mitleid mit Vater zu fühlen. Sie blickt ihn trotzig und vorwurfsvoll an, weil sie sich missverstanden fühlt und gekränkt ist. Sie lässt ihn spüren, dass er sie enttäuscht hat und dass sie davon träumt, ein anderes Leben zu führen, dass sie glaubt, mit der Heirat einen Fehler begangen zu haben.
    Vaters jahrelange Nervenkrisen wirken als stilles Gift, das uns Kindern Tröpfchen für Tröpfchen eingeflößt wird. Wir sehen zu, wie er sich als Vater zu Fall bringt, wie er uns zu seinen Kumpanen macht, die den Furor seines Wütens auszuhalten haben, wie er uns in sein altes Entsetzen zieht, uns seinen Schmerz nahezubringen versucht, den wir nur ahnen, aber nicht nachempfinden können, wie er will, dass wir mit unserer Verstörung seine Verstörung ungeschehen machen und das Schaudern als Essenz des Lebens begreifen. Er fühlt sich von allen verraten und verrät uns an alle, die bereit sind, seinen Verdächtigungen zu glauben. Nachdem der Sturm abgeklungen ist und sich das Leben fortzieht in die Ernüchterung, schweigt Vater tagelang vor Entsetzen und Bedauern, aus Scham oder Genugtuung darüber, dass er sich wieder einmal gründlich ausgesprochen hat.
    Ich kann mich nur schwer von den Verwüstungen erholen, die eine durchwachte Nacht mit Vater in mir anrichtete, in der wir alle nicht schlafen konnten, weil er sich nicht beruhigen wollte. Ich bin von seinen Zerstörungsanfällen zermürbt und finde keine Sprache, die die Wucht seiner Ausbrüche nachzeichnen könnte. Meine Sprechversuche

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