Engel des Vergessens - Roman
Abenteurer, über die man sich das Maul zerreißen könne. Niemand hatte eine Ahnung von Konspiration. Er habe sich oft den Kopf zerbrochen, sagt Sveršina, warum so viele Menschen aus den Gräben in die Konzentrationslager gekommen sind, warum die Polizei immer bestens informiert gewesen ist.
Lieber Cyril, sagt Leni, ich glaube, wir sind, seitdem man dich und mich damals, in diesem unseligen Winter, als Partisanen verhaftet hat, kein einziges Mal so lange beisammengesessen. Sie steht auf. Du bist ein mutiger Kämpfer gewesen, vom Unfall mit dem Jagdgewehr einmal abgesehen. Du hast sogar die Granate, die die Polizei in mein Haus geworfen hat, aufgefangen und zurück ins Freie geschleudert. Du hast meinen Kindern, die sich alle im Haus aufgehalten haben, als wir verraten worden sind, das Leben gerettet. Auch wenn du dich jetzt nur mit deinen Holzschnitzereien beschäftigst und für uns Politische nichts übrig hast, hast du zur Befreiung unseres Landes sehr viel beigetragen.
Es war schrecklich, unterbricht Cyril sie, wie sie den Primož zugerichtet haben und wie sie dich im Gefängnis gemartert haben.
Ich bin noch nicht fertig, sagt Leni und holt tief Luft. Sie glaube, dass das heute eine besondere Totenwache gewesen sei, bei der die Mitzi, ihre aufgebahrte Schwägerin, zugehört haben könnte. Sie sei stolz darauf, dass das slowenische Volk in der Nazizeit nicht klein beigegeben habe, dass es begann, für sein Überleben zu kämpfen. An gewissen Tagen spüre sie ihre Folternarben im Nacken, auf dem Gesäß und auf dem Rücken, die ihr vom Gestapoverhör geblieben sind. Da klopft die Vergangenheit bei mir an, sagt Leni, da ruft sie nach mir und beginnt mich zu peinigen. Da werde ihr bewusst, dass sie, die Älteren, die Verpflichtung hätten, ihr Wissen an die Jugend weiterzugeben, damit sie nicht eines Tages ohne Erinnerung an ihre Familien zurückblieben. Sie möchte damit schließen, sagt sie, dass es sie freue, dass Zdravko heute den ganzen Abend kein lautes Wort gesagt habe und friedlich geblieben sei. Während alle verlegen lächeln, erstarrt Vaters Gesicht wieder. Er fragt mich, ob ich bei der Toten wachen möchte, er müsse sich jetzt hinlegen. Ich willige ein, weil ich hoffe, damit meine Gedanken beruhigen zu können.
Leni geht mit mir zur Aufgebahrten in die Stube und tupft mit einem Tuch das Weihwasser von Großmutters Antlitz, das von den vielen Segnungen nass geworden ist. Sie tauscht die Kerzen aus und geht rückwärts aus der Stube, als ob sie Großmutter noch einmal die Ehre erweisen wollte.
Ich bleibe allein im Aufbahrungszimmer sitzen und beobachte die flackernden Feuerzungen der Kerzen. Ein paar Weihwassertropfen scheinen auf Großmutters Kostüm liegengeblieben zu sein wie kleine Seifenblasen. Aus der Küche sind knarrende Sesselgeräusche zu hören. Ich öffne ein Fenster und setze mich wieder auf die Ofenbank. Meine Gedanken beginnen in den Bauch zu sinken, wo sie sich einen dunklen Bereich aussuchen, um sich niederzulassen.
Von der Bahre geht Stille aus. Draußen sind die ersten Vogelstimmen zu hören, die als trillernde, zirpende Klangwelle in die Stube gleiten. Der Vogelgesang strömt um den schweigenden Kern der Aufgebahrten und hüllt Großmutter in etwas ein, in das sie zurückkehrt, in das sie zurückgenommen wird.
Cyril kommt aus der Küche und sagt, dass Sveršina auf der Küchenbank eingeschlafen sei. Er wolle noch für seine Schwester beten. Er setzt sich zum Kopfende der Bahre und zieht einen Rosenkranz aus der Tasche. In stummem Gebet rollen seine Finger den Rosenkranz auf, Kugel für Kugel, Satz für Satz. Ich lege mich auf die Bank und schlafe ein.
Mutter, die aufgestanden ist, um in den Stall zu gehen, weckt mich. Sie sagt, ich könne mich in ihr Bett legen. Ich sehe Cyril noch an der Bahre sitzen und gehe schlaftrunken in das elterliche Schlafzimmer. Als ich aufstehe, ist es Mittag geworden. Die nächtlichen Totenwächter haben das Haus verlassen.
Am Abend werden von den Totenbetern weitere Blumensträuße und Kränze ins Haus gebracht. In der Wohnstube breitet sich ein süßlicher Blumenduft aus, der sich bis zum Morgen in den schärferen Geruch welkender Blumen verwandelt. Nach Mitternacht, als die letzten Totenbeter das Haus verlassen, entscheidet Vater, den Sargdeckel über die Verstorbene zu legen, weil sie, wie er sagt, begonnen hatte zu arbeiten. Die Fenster werden geöffnet und der Raum wird geräuchert. Bevor der Sargdeckel ins Zimmer gebracht wird, tritt Mutter
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