Engel des Vergessens - Roman
an die Bahre und greift ruckartig nach Großmutters Hand. Sie beginnt leise zu wimmern und sagt dann mit fester Stimme, dass ich es hören kann: Sie waren im Leben nicht gut zu mir, aber ich habe Sie immer geachtet. Möge Gott Ihnen Frieden geben. Ich habe meinen mit Ihnen geschlossen. Mutters Ausbruch, der sich zu einem lauten Schluchzen steigert und dann wieder abklingt, verdutzt mich. Als die Männer den Deckel auf den Sarg legen, reißt sich Mutter von der Bahre los. Sie schnäuzt sich in ihr Taschentuch und beginnt mit rauer Stimme zu beten. Wir sind gezwungen, ihr zu antworten, und stehen betroffen in der Stube, die unvermittelt einem Vogelhaus auf einer hohen Felsklippe gleicht, aus dessen Öffnung die Tote in die Tiefe geworfen wird.
Die letzte Totenwache will Tschik übernehmen, um sich von seiner KZ-Gefährtin zu verabschieden, wie er sagt. Der Kranz der Lagergemeinschaft Ravensbrück mit dem roten Dreieck in der Mitte lehnt an der Stirnseite der Bahre und glänzt.
In der Früh kommen die Sargträger auf den Hof. Die Tote wird in ihrem Sarg durch das Fenster ins Freie gehoben und noch einmal auf der Schwelle des Hauses abgestellt, damit sie Abschied von ihrem Heim und den Hinterbliebenen nehme. Dann wird der Sarg auf einen Anhänger gehoben, mit Blumenkränzen bedeckt und zum Friedhof gefahren.
Großmutters Begräbnis ist feierlich. Ich bewege mich in der Menschenansammlung, als ob ich das erste Mal in meinen Körper gefunden hätte. Während der Sarg über den Marktplatz getragen wird, tollt ein zwitscherndes Drosselpaar über dem Trauerzug und den wuchtigen Kränzen.
Nach Großmutters Beisetzung wird auch mir kondoliert, was mich erstaunt, weil ich mich bis dahin nicht als Erwachsene wahrgenommen hatte. Beim Totenmahl beobachte ich Vater und denke, dass er wie ein Mann wirkt, der gerade seine ganze Familie verloren hat.
Zu Hause setze ich mich in die ausgeräumte Wohnstube, die noch zart nach Verwesung riecht. Mit dem Geruch, der sich langsam aus der leeren Stube zurückzieht, zieht sich auch Großmutter aus mir zurück. Sie bewegt sich in mir, als ob es an der Zeit wäre aufzubrechen. Sie steht auf, legt ihr Strickzeug auf den Tisch, verdunkelt die Fenster, schließt die Tür und verlässt mich. An die Stelle, an der sie sich aufgehalten hatte, tritt ein zäher Schmerz, ein Schmerz, der lange nicht weichen wird. Meine Augen verweilen auf den Schlüsselblumen draußen, am Beginn der ansteigenden Wiese vor unserem Haus. Alles wird sich ändern, denke ich.
Am nächsten Tag, kauere ich mich, nachdem ich Mutter beim Reinigen des Hauses und beim Schrubben der Wohnstube geholfen habe, in eine warme Mulde am Waldrand hinter unserem Haus. Ich blicke in den Talgraben und beginne zu überlegen, ob ich nicht doch anfangen sollte, aufzuschreiben. Die Worte könnten aus ihrer unentwegten Rotation an mich herangeführt werden, ich könnte sie ihrer dunklen Laufbahn entreißen und sie etwas Eigenes erzählen lassen, aber das Eigene ist nichts weiter als eine Fata Morgana.
* * *
Nach Großmutters Tod werden die Abläufe in unserem Haus neu geordnet. Ihr Erbe wird aufgeteilt. Ich bekomme ihre Strohhüte und Kopftücher, ihre weißen Leinenunterröcke, ein paar Teetassen und Gläser sowie einzelne Fotografien. Diese Gegenstände sind mein Leibzubehör, finde ich, sie geben mir eine erste Gestalt.
Mutter richtet sich den Haushalt nach ihren Vorstellungen ein. Sie kauft sich ein Moped und fährt damit, wenn es sein muss, auch in die entlegene Bezirksstadt, um Amtswege und Einkäufe zu erledigen. Die Einkaufsware verstaut sie in einem großen Rucksack, den sie geschultert hat, oder in Taschen, die sie auf dem Gepäckträger festbindet. Allmählich übernimmt sie die Organisation der Familie. Vater beklagt zwar, dass sie ihm über den Kopf wachse, überlässt aber die amtlichen und organisatorischen Belange zur Gänze seiner Frau.
Er beginnt ein Doppelleben zu führen, ein Leben für die Nachbarn und eines für die Familie. Für die Nachbarn versucht er die Illusion eines unbeschwerten Daseins aufrechtzuerhalten. Er will, wenn er in Gesellschaft ist, seine Fröhlichkeit, seine Zutraulichkeit und seinen Fleiß zur Schau stellen. Er möchte als der zäheste Arbeiter gelten, als kultiviertester und umsichtigster Jäger des Reviers. Er will ein wagemutiger Motorradfahrer und der lustigste Klarinetten- und Harmonikaspieler im Ort sein. Er will wegen seiner denkwürdigsten Streiche und Unternehmungen im Gedächtnis der
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