Engel des Vergessens - Roman
Schreier gepackt und ins Gebüsch geworfen habe. Da habe er gespürt, sagt Vater, dass noch Kampfgeist übrig geblieben sei. Er jedenfalls sei mit ein paar Gefährten rasch nach Eisenkappel gefahren und habe im Gasthaus Koller ein Gulasch und ein Bier bestellt. Die Urkunden haben wir im Auto liegen lassen, sonst hätte es beim Koller auch noch eine Rauferei gegeben, sagt Vater.
Ein paar Jahre später erhält er vom österreichischen Bundespräsidenten das Ehrenzeichen für Verdienste um die Befreiung Österreichs. Auf die Auszeichnung sei er stolz, die Urkunde werde er rahmen lassen, sagt Vater. Dessen ungeachtet ist er überzeugt, dass die Politik eine Betrügerin ist und Menschen wie ihn nur am Gängelband führe.
Politische Anlässe der Kärntner Art, Begräbnisse oder Verwandtenbesuche sperren Vater in die Vergangenheit ein, aus der er nur schwer wieder herausfindet. Er leidet wochenlang an den Folgen eines Gasthausbesuchs, bei dem ihm jemand, mit dem er getrunken hatte, vorhielt, dass er selbst an seinem Unglück schuld sei, dass es die Schuld seines Vaters und seiner Mutter gewesen sei, dass er in diese Verstrickungen hineingeraten ist. Wenn sein Vater nicht zu den Partisanen gegangen wäre und nicht gegen Hitler und für die Slowenen gekämpft hätte, wäre ihm nichts zugestoßen. Warum also rege er sich auf, wer A sagt, müsse auch B sagen, habe der Vorlaute gemeint, und die anderen wollten ihm nicht widersprechen, weil sie der Alkohol im Griff hatte. Vater ist tief getroffen, und ich bin verstört, weil ich spüre, dass er unter dem Einfluss des Alkohols jeglichen Selbstschutz verliert, dass er wehrlos wird gegen jede Provokation, gegen jede Anspielung, gegen jedes Gerücht, dass er sofort bereit ist, sich in Frage zu stellen und jenen, die ihn verspotten, Glauben zu schenken.
Nur die Besuche seiner engsten Verwandten, seines Bruders und dessen Familie, oder die Besuche seiner Cousinen und Cousins, mit denen er die Kriegsjahre durchlebt hat, machen ihn merkwürdig glücklich. Auch wir Kinder freuen uns, wenn sich unsere Wohnstube füllt und die Gäste fröhlich schwatzend um den gedeckten Tisch sitzen. Es wird gelacht und erzählt und gesungen. Manchmal steht einer der Anwesenden auf und hält eine Rede. Vater weint, ohne sich dafür zu schämen, manchmal weinen die anderen, vor allem seine Cousine Zofka, an der Vater besonders hängt. Wenn sie sich an den dramatischen Tag, an dem Großmutter verhaftet wurde, erinnern und Peter und Tonci schildern, wie schmachvoll und schmerzlich die Ohrfeigen waren, die ihnen ein Polizist während der Hausdurchsuchung versetzt hatte, erwähnen sie jedes Mal einen älteren, zurückhaltenden, rothaarigen Beamten, der Tränen in den Augen gehabt habe, als er die verzweifelten Buben anschaute. Die Tränen des Polizisten, der bei Großmutters Verhaftung assistierte, treiben auch den Erzählern Tränen in die Augen, als ob ihnen die Emotionen des Fremden erst die eigene Trauer ermöglichten, als ob sich ihre Verzweiflung in den Augen des fremden Polizisten wirklicher und glaubhafter widerspiegelte als in ihrem eigenen Inneren. Michi erzählt von der Šporn-Tochter, die damals in ihrem Alter, also noch ein Kind war. Sie wurde auf der Kupitz-Brücke im Remschenig-Graben von Polizisten mit Gewehrkolben bewusstlos geschlagen, weil ihre Eltern zu den Partisanen gegangen waren, sagt er. Ihren Mitschüler und späteren Mann, der sie auf dem Heimweg begleitete, hätten die Polizisten auch fast zu Tode geprügelt. Sein Brustkorb trägt noch heute die Spuren der Marter, sagt Michi. Vater weiß davon. Er behauptet auch, dass der Graf Thurn den Kindern das Leben gerettet habe. Da die Polizisten, als die Kinder schon bewusstlos am Boden lagen, noch immer nicht aufhörten zu schlagen, habe der Graf sich vor die Kinder gestellt und sie beim Kupitz versorgen lassen. Im Remschenig-Graben hätte die Polizei an einem Tag dreizehn Familien abgeführt, wenn es nicht Einzelnen gelungen wäre, sich der Verhaftung durch die Flucht zu den Partisanen zu entziehen, sagt Michi, das muss man sich einmal vorstellen, in einem Graben, in dem es nicht einmal zwanzig Huben gab.
* * *
In den letzten Gymnasialjahren entwickelt Vater ein verschämtes Interesse für mein schulisches Fortkommen und zeigt es beiläufig und zurückhaltend. Er schaut sich meine Zeugnisse an und liest die Namen der Fächer vor, weil ihm die zweisprachigen Bezeichnungen gefallen. Wenn an einem Wintermontagmorgen, an dem ich in der
Weitere Kostenlose Bücher