Engel des Vergessens - Roman
Früh nach Klagenfurt fahren muss, der Schnee hoch liegt und Michi, der mich immer am Wochenbeginn mit seinem Auto nach Eisenkappel zum Bus fährt, seinen Wagen nicht aus der Garage bringt, steht Vater um vier Uhr auf und beginnt mit dem Traktor den Schnee von den Zufahrtswegen zu räumen. Er fährt zu Michis Haus und schiebt rückwärts fahrend die Schneemassen von der Fahrbahn. Manchmal bleibt er an der Hauptstraße stehen und wartet, dass Michi mit seinem Auto neben dem Traktor hält und aussteigt. Die beiden Männer rauchen im morgendlichen Dunkel ihre ersten Zigaretten und reden über das Wetter. Sie prägen sich in mein Gedächtnis ein als zwei im Schneetreiben stehende, fröstelnde Männer, die mir den Schulweg bahnen.
Als die Eltern zur Maturafeier eingeladen werden, lehnt Vater es ab mitzukommen. Er könne sich nicht vorstellen, auf ein Schulfest zu gehen, niemals, sagt Vater. Auf Mutter, die an der Feier teilnimmt, ist er böse, weil sie sich wieder mit fremden Federn schmücke, wie er meint.
Nach der Matura sehe ich von meiner Zukunft nichts als ein weißes Wolkenfeld und bilde mir ein, dahinzuwollen, fortzuwollen in das Unbestimmte.
Meine Eltern halten sich zurück, ihren Mündern entschlüpft kein Vorschlag, sie überlassen die Studienwahl mir, sie versuchen nicht, sich in etwas einzumischen, das ihnen fremd ist und das sie nie in Betracht gezogen hatten. Soll doch die Tochter tun, was sie will, solange sie ihnen keine Schande bringt, denn mit dem Begriff Schande wissen die Eltern mehr anzufangen als mit dem Wort Studium. Sie verwenden es mit Vorsicht wie alle Fremdwörter. Mutter spricht die gewählte Studienrichtung Theaterwissenschaft nach Monaten zögerlich aus, und Vater versucht erst gar nicht, sich den Namen zu merken. Er sagt, wenn ihn jemand fragt, was seine Tochter denn studiere, es habe etwas mit Theater zu tun, das genüge ihm, denn er kenne sich mit geistiger Arbeit nicht aus und möchte auch nicht darüber nachdenken.
Ich beschließe, Theaterwissenschaft zu studieren, weil ich nach vielen Theaterbesuchen überzeugt bin, dass die Bühne für mich ein Raum werden könnte, wo ich allen Verzweiflungen und Verstrickungen gefahrlos begegnen würde. Die Katastrophen auf der Bühne sind begrenzt, alle Protagonisten überleben, auch wenn sie noch so oft zu Tode gebracht werden. Sie stellen ihre Enttäuschungen, Bosheiten, Träume, ihre Liebe und ihren Hass zur Schau, sie können ihren Gefühlen und ihren quälendsten Befürchtungen nachgeben. Eine Vorstellung kann nur mit einem Anfang beginnen und muss kein gutes Ende haben. Ein Ende hat sie in jedem Fall. Das Theater kann einen nicht hinterrücks überfallen wie das Leben, auch wenn es um sich schlägt. Alles ist Spiel, alles in Schwebe.
In Wien nehme ich die Schreibversuche wieder auf und schreibe auf Slowenisch, als ob ich mich mit dieser Sprache ins Bewusstsein zurückrufen könnte, als ob mich das Slowenische zu meinen Empfindungen zurückführen könnte, die mir fremd geworden sind. Eine Trauer, die noch nicht weiß, was sie ist und wie sie heißt, wartet darauf, benannt zu werden, wartet, dass ich ihr Rätsel löse. Sie will mit den Wörtern an mich gekettet sein wie alle Gefühle, die sich undeutlich in mir bewegen. Meine Sätze sind ungelenk, als wären sie aus herausgerissenen Buchstabenreihen zusammengestellt. Sie wirken wie Briefe, die nicht zugeordnet und zurückverfolgt werden können, die ihren wahren Verfasser nicht verraten wollen.
Mutter schreibt mir in einem Brief, dass sie überlege, von zu Hause wegzugehen. Sie halte es nicht mehr aus, sie werde sich eine Arbeit suchen.
Als ich zu Weihnachten nach Hause komme, berichtet sie, dass sie sich mit Vater ausgesprochen habe, er habe ihr versprochen, sich zu ändern, sagt sie mit unsicherer Stimme, als ob sie wüsste, dass sie einen Teil ihrer Hoffnung aufgeben müsse. Sie habe beschlossen, sich kleine Freiheiten herauszunehmen, auf Kur zu gehen, an Ausflügen teilzunehmen oder an Sonntagen zu wandern. Sie müsse ab und zu von zu Hause weg und auf andere Gedanken kommen, damit sie es während der Woche besser aushalte. Ich bestärke sie in ihren Absichten und frage, wie sie sich das Leben in der Stadt vorgestellt, ob sie an eine Scheidung gedacht habe. Aber für Mutter kommt eine Scheidung nicht in Frage.
* * *
Im Winter des zweiten Studienjahres komme ich spätabends in Eisenkappel an und überlege, wie ich die sieben Kilometer nach Lepena mit meinem Gepäck bewältigen soll,
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