Engel des Vergessens - Roman
harte Schule, was, Zdravko, fragt Johi und schaut mich an.
Hast du auch Geld bekommen, fragt Vater.
Ich habe eine kleine Pension wegen des Lagers, du weißt doch, sagt Johi.
Ja, ja, antwortet Vater und wiederholt, dass er mit der Prämie sein Gebiss in Ordnung bringen wolle. Dann sei das staatliche Taschengeld eh schon weg, weg wie nix, sagt er.
Ich will wissen, wo die Grenze zu Jugoslawien verläuft, um das Gespräch aus der Vergangenheit zu leiten. Beide Männer strecken ihre rechten Arme aus und weisen nach Süden. Die Grenze verlaufe über den Waldkamm dort, dann führe sie hinter der Almwiese hinüber auf die andere Seite, sagen sie.
In den letzten Tagen vor Kriegsende sei er mit den Partisanenkurieren hier herumgeirrt, erinnert sich Vater. Sie seien tagelang auf der Flucht vor den Verfolgern gewesen, die ihre Spur aufgenommen hatten. Ende April sei frischer Schnee gefallen, und über den Luschasattel strömten die Soldaten, die sich aus der Südsteiermark vor den Partisanen zurückziehen mussten. Seine Gruppe wäre fast irgendwelchen Polizisten in die Hände gelaufen, die aus Globasnitz heraufgekommen seien. Dieses Gebiet kenne er wie seine Hosentasche, sagt Vater, aber inzwischen sei alles zugewachsen und die Luschaalm nicht mehr zu überblicken. Das ist das Leben, Zdravko, alles wächst zu, sagt Johi. Wenn er allein sei, sinniere er über das Leben. Er wandle über die Wiesen und Felder, schaue in den Graben oder auf die Berge und denke sich, dass er froh darüber sei, damals niemanden in den Tod geschickt zu haben. Er frage sich oft, wie es denjenigen später wohl ergangen sei, die die einheimischen Leute, die Bauern, die Kinder, die Frauen, die Alten denunziert und an die Nazis verraten haben. Er habe die nationale Frage an jenem Tag fallengelassen, an dem er und seine Nachbarn von einem Spitzel aus Slowenien der Polizei ausgeliefert worden waren. Der Umstand, dass ein Slowene zur Polizei gegangen ist und gesagt hat, der da oder die da arbeitet für die Partisanen, dass also jemand geglaubt hat, dass es richtig sei, die Menschen auszuliefern, die eigenen Leute, das ist ja noch schlimmer, als es die Deutschen waren, die davon ausgegangen sind, dass ihnen ihre Herrenrasse das Recht gibt, über andere zu herrschen, sagt Johi. Er verstehe nicht, wie man Menschen denunzieren könne, nur weil man glaube, alle wären Kommunisten und gehörten umgebracht oder was. Mir muss niemand etwas erzählen, mir ist es egal, ob meine Kinder slowenisch sprechen oder nicht, sagt Johi. Er habe aufgehört, sich darum zu kümmern. Es kümmert mich nicht, sagt er und lächelt.
Vater sagt nichts. Er starrt auf den Boden und zieht an seiner Zigarette.
Alles ist gut geworden nach dem Krieg, und nichts ist wieder ganz gut, sagt Johi, so versuche er es zu sehen. Er habe schon begriffen, was der Hitlerismus war, er sei froh, ihn überlebt zu haben. Manchmal, wenn er da herumstreife, schaue er hinauf zu den Fichten über der Böschung. Dort haben die Partisanen den Keber-Bauern erschlagen, weil er angeblich mit der Aussiedlung seiner Nachbarn zu tun gehabt haben solle, und da denke er, dass ihm der schlechteste Friede lieber sei als der Krieg, weil im Krieg alle wahnsinnig werden und weil es im Krieg keine Gerechtigkeit gibt, nie und nimmer, sagt Johi.
Ja, seufzt Vater, ja. Sein Vater habe die Stelle, wo der Keber lag, nach dem Krieg der Familie gezeigt, damit der Leichnam ausgegraben und auf dem Friedhof beigesetzt werden konnte. Großvater habe sich mit Kebers Hinrichtung nicht abfinden können. Es habe ihn vieles aus der Partisanenzeit beschäftigt, solange er lebte, sagt Vater. Er sei nach dem Krieg enttäuscht gewesen und habe die Politik verwünscht.
Aber dein Vater und die drei Onkel deiner Frau, die bei den Partisanen gefallen sind, sind doch nicht gegen den Keber in den Krieg gezogen, sie haben doch für etwas anderes gekämpft, sagt Johi. Ich blicke ihn überrascht an, weil ich ihn noch nie so reden gehört habe und weil ich erstaunt bin, das erste Mal zu hören, dass drei Onkel meiner Mutter bei den Partisanen gefallen sind. Drei Holzfäller, die sich entschieden haben, aus der Wehrmacht zu desertieren, und niemand aus unserer Familie hat es je für wert gefunden, sie in die Familienerzählung aufzunehmen, geradeso, als ob sich die Großonkel mütterlicherseits nach ihrem Tod in Luft aufgelöst hätten, sich in Nebel gehüllt hätten, um endlich unerkannt und unverdächtig zu werden, um aus der Geschichte zu
Weitere Kostenlose Bücher